18.07.2014
Den dunklen Rauch nicht einatmen. Eine Augenzeugin berichtet aus Gaza
Zerstörung im Gaza-Streifen schon 2006. Foto: Zoriah/Flickr (CC)
Zerstörung im Gaza-Streifen schon 2006. Foto: Zoriah/Flickr (CC)

Die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen hat begonnen. Für viele Bewohner werden die schlimmsten Befürchtungen wahr. Eine junge Mutter aus Gaza-Stadt berichtet über den Alltag unter Feuer in den letzten Tagen vor dem Einmarsch.

Vor der neuerlichen Eskalation hatte ich bereits 2008/9 und 2012 zwei Kriege erlebt. Doch dieses Mal bin ich nicht nur für mich, sondern auch für meine sechs Monate alte Tochter verantwortlich. Ich muss immer bei ihr und bereit sein, lustige Geräusche zu machen, sobald die F16-Kampfflugzeuge ihre Angriffe beginnen. Die Nächte sind schlimmer als die Tage und jede Nacht wird härter als die vorherige.

Seit mehr als zehn Tagen blutet mein Herz jedes Mal, wenn ich in den Nachrichten Eltern ihre Kindern beweinen sehe. Die Angst in den Augen meiner Nachbarn vor einer Bodeninvasion ist unbeschreiblich. Jede Nacht müssen wir bis zum Morgengrauen warten, um ein, zwei ruhige Stunden Schlaf zu bekommen. Morgens beten wir dann, dass die Elektrizität funktioniert, damit wir die Nachrichten sehen können. Sie sind voller Blut, Unterdrückung und Meldungen von Nahrungs-, Benzin- und Medikamentenknappheit. Eine angemessene Reaktion der regionalen und internationalen politischen Akteure bleibt aus.

Die dümmste aller Rechtfertigungen für die anhaltende Schließung des Grenzübergangs Rafah nach Ägypten hörte ich von einem bekannten ägyptischen Journalisten: Man möchte den Grenzübertritt von Menschen aus Gaza verhindern, da sie hierdurch Gefahr liefen, nicht mehr in den Küstenstreifen zurückkehren zu können. Ägypten lasse eine erneute Vertreibung von Palästinensern durch Israel nicht zu, so der O-Ton. Tatsächlich, meine ich, tragen die Ägypter dazu bei, dass mehr und mehr Palästinenser aufgrund der Blockade sterben.

Den nervenaufreibendsten Moment erlebte ich am vergangenen Dienstag um 22:50 Uhr. Jemand klingelte an der Tür und teilte uns mit, dass wir sofort das Haus verlassen müssten. Einer der Hausbewohner hatte per SMS eine Warnung von den Israelis erhalten, wonach das Gebäude bombardiert werden solle. Hals über Kopf verließ ich mit meiner Tochter auf dem Arm das Haus. Gemeinsam mit allen Bewohnern der 32 Wohnungen in unserem Gebäude suchten wir in einem Nachbarhaus Schutz. Dort blieben wir etwa 40 Minuten, doch nichts passierte. Wir hatten Angst, nach Hause zurückzukehren, also versuchte ich zum Haus meines Schwiegervaters zu gelangen. Es war schwierig, ein Transportmittel zu finden. Die männlichen Hausbewohner blieben zurück, um im Falle eines Angriffes das Feuer zu löschen, den Verletzten zu helfen und Plünderungen vorzubeugen.

Am Mittwoch wurde ein anderer Hausbewohner per Anruf von den Israelis gewarnt, aufgrund eines anstehenden Luftangriffes das Haus zu verlassen. Er entgegnete dem Armeeoffiziellen, dass er UN-Mitarbeiter und mit keiner politischen Partei affiliert sei. Der Armeeoffizielle überprüfte die Angaben. Er meldete sich wieder bei ihm mit der Aufforderung, das Haus trotzdem zu verlassen. Der Angriff gelte der Garage im Erdgeschoss. Wir Hausbewohner wissen nicht, wer die Person ist, die die Garage gemietet hat, aber nicht im Haus wohnt. Wieder verließen alle Bewohner das Haus, doch das Haus wurde nicht bombardiert.

In Gaza leben heißt, nie in Sicherheit zu sein

Am Donnerstag nutzten die Menschen die fünfstündige Feuerpause um Einkäufe für die Familie zu tätigen. Mir gelang es, mein Zuhause zu besuchen und wichtige Dokumente, Geld sowie Sachen für mein Baby abzuholen.

Teil der unterdrückten Bevölkerung von Gaza zu sein bedeutet, dass man sich nie in Sicherheit wähnen kann. Es bedeutet auch, dass die Kinder um Dich herum tagelang wach bleiben und nach traumatischen Erfahrungen ihre Zeit damit verbringen, über den Typ Kampfflugzeug zu diskutieren, der das letzte Geschoss angefeuert hat. F16 oder Apache? Wie groß war die Explosion? Wie klang das Geräusch der Detonation? Palästinensische Kinder lernen ein ganz besonderes Vokabular.

Unterdrückt zu sein bedeutet, Familien dabei zuzusehen, wie sie ihre Häuser verlieren und wie dann die Medien Lügen verbreiten und behaupten, es seien die Häuser israelischer Familien gewesen. Die Medienberichterstattung ist immer von den Interessen der Mächtigen gelenkt.

Unterdrückt zu sein bedeutet auch, Ramadan zu feiern wenn der Geruch von Sprengstoff in der Luft hängt, der betäubende Lärm von Explosionen und die Erschütterungen einstürzender Häuser. Als Palästinenserin in Gaza solltest Du Dich von Fenstern fernhalten und deine Wohnung so einrichten, dass es Platz für alle wichtigen Aktivitäten gibt: schlafen, essen, Nachrichten schauen. Du solltest bei fremden Geräuschen immer auf der Hut sein, es könnte der Lärm einer Warnrakete sein, die die Zerstörung Deines Hauses ankündigt. Palästinenserin in Gaza zu sein heißt auch, angestrengt zu versuchen, nicht einzuatmen, wenn das Haus gegenüber bombardiert wird, denn dann ist die Luft voll von dunklem Rauch.

Kein Ort ist sicher in Gaza. Die Geräusche der israelischen Drohnen lassen einem die Ohren sirren. F16-Geschosse saugen die Luft aus der Lunge. Und diejenigen, die wie ich nahe der Küste leben, müssen die Geräusche der Kregsschiffe ertragen, die ständige Kopfschmerzen und Angst verursachen. Es geht nicht um den einen Tod, es geht darum, den Tod jeden Moment wieder zu erleben. Worte werden leer, wenn man unter Feuer lebt.

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