17.09.2014
Brüchige Waffenruhe - ein Kommentar von der Grenze zu Gaza
Graffiti in Bethlehem an der Mauer. Bild: Tobias Raschke 2012 (C)
Graffiti in Bethlehem an der Mauer. Bild: Tobias Raschke 2012 (C)

Um ihren eigenen Machtanspruch zu sichern, stilisieren sich beide Seiten zum Gewinner der jüngsten Gewalteskalation im Gazastreifen. Auf eine nachhaltige Lösung arbeiten die Konfliktparteien nicht hin. Roni Keidar, israelische Aktivistin aus einem Dorf an der Grenze zu Gaza, ruft in einem offenen Brief beide Bevölkerungen dazu auf, selbst den Kontakt zu suchen.

Während des jüngsten Krieges in Gaza berichtete unsere Gastautorin von einem Besuch bei Roni Keidar, die in einem Kibbuz in unmittelbarer Nähe zum Gaza-streifen lebt. Die Aktivistin von der Graswurzelbewegung Other Voice hat nun einen Aufruf an Palästinenser und Israelis veröffentlicht:

"Ich lese die Mitteilungen, Kommentare und Denunziationen von hier und dort. Ich habe mir die Reden der „Helden“ angehört, Benjamin Netanjahu auf der einen und Ismail Haniya auf der anderen Seite. Jeder hat sich selbst auf die Schulter geklopft, hat behauptet, dass er es geschafft hat, den anderen vernichtend zu schlagen.

Doch mir ist wirklich egal, wer der „Gewinner“ ist, denn Verlierer sind wir alle. Mir macht der gewaltige und schreckliche Verlust auf beiden Seiten Sorgen, die Angst und der Terror, der längst die Kontrolle über unsere Leben übernommen hat. Im Krieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer! Deshalb setze ich mich seit Jahren dafür ein, ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, dass Gewalt nicht die Antwort ist, sondern immer nur mehr Gewalt verursacht. Solange sie das nicht verinnerlichen, kann keine der beiden Konfliktparteien angemessene Ergebnisse erreichen. Nein, mir ist wirklich egal, wer sich selbst als Gewinner sieht, solange wir uns nicht auf unseren Humanismus besinnen, um die Zukunft zweier Völker so zu gestalten, dass wir Seite an Seite in Sicherheit leben können.

Doch das ist längst nicht allen klar. Zwar gibt es viele, die Frieden genauso wollen wie ich. Doch sie wollen nicht mehr daran glauben. Sie sagen: „Aber wir haben doch geredet“. Nein, das haben wir nicht. Niemand von uns oder unseren Nachbarn hat sich hingesetzt, um zu reden und eine Einigung zu erzielen. Reden um des Reden willens, um nicht aufzuhören zu reden, bis wir ein Abkommen über eine Koexistenz in gegenseitigem Respekt finden, wobei wir auf die Sicherheitsanforderungen, die Freiheit und die Möglichkeit eines würdevollen Lebens auf beiden Seiten der Mauer Rücksicht nehmen.

Wir sind sehr stark, fortschrittlich, raffiniert und geschult in der Kriegsführung. Ich glaube aber auch, dass wir ebenso stark, fortschrittlich, raffiniert und geschult sind, Verhandlungen zu führen, solange wir nur daran glauben, dass das der richtige und einzige Weg ist, um Frieden und Ruhe zu erreichen. Ich glaube an ein Zusammenleben, in dem das Augenmerk zum Wohl von uns allen auf Bildung, Kultur, Forschung und Entwicklung liegt – für Männer, Frauen und Kinder auf beiden Seiten des Konflikts. Es darf kein endloser Konflikt bleiben, davon bin ich überzeugt, und es ist nicht bloß eine Träumerei.

Ich kenne die lange Geschichte des Konflikts und die Unfähigkeit, einander auf diesem kleinen Stück Land zu akzeptieren. Ich weiß, dass jede Seite den Besitz dieses Landes für sich beansprucht. Aber ich weiß auch, dass dieser Streit nicht ewig weitergehen muss. Wir müssen nicht gewinnen, vertreiben, erobern und verbannen. Wir können uns dazu entscheiden, zu leben und leben zu lassen. Wie genau, in welchen Grenzen - darüber sollten wir diskutieren und so zu einem beidseitigen Einverständnis kommen. Ich weiß, dass ein solcher Prozess dauern wird, aber bis dahin lasst uns unsere Ressourcen für Aufbau und Entwicklung nutzen – lasst uns leben und nicht kämpfen.

Lasst uns heraustreten mit einem Schrei und auch unsere Freunde auf der anderen Seite der Mauer ermutigen, mit einem lauten Schrei herauszutreten, dass dies der Weg ist, den wir nehmen sollten, Hand in Hand, einander helfend. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Dinge wieder so werden, wie sie waren. Kein Beschuss mit Raketen und Granaten mehr, keine Terrortunnel mehr, keine Luftangriffe und kein Artilleriebeschuss! Kein unschuldiges Blutvergießen und keine Zerstörung von Häusern, Schulen, Krankenhäusern und Moscheen. Keine Angst und kein Terror mehr, kein wahnsinniges Flüchten in Schutzräume und Bunker, dort, wo es sie gibt. Und keine Suche mehr nach einem sicheren Ort, dort, wo es keinen gibt.

Lasst uns ausrufen, Israelis und Palästinenser gleichermaßen, dass wir leben wollen und dass wir von unseren Führern erwarten, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, uns durch Verhandlungen ein würdevolles Leben in gegenseitigem Respekt zu ermöglichen. Wenn Sie darin Erfolg haben, Benjamin Netanyahu, Mahmud Abbas und Ismail Haniya, dann können Sie sich wirklich Gewinner nennen und Sie werden in die Geschichte als echte Führer eingehen, die das Wohl ihres Volkes im Sinn hatten."

 

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