Ein Beitrag von Marian Brehmer
Die Proteste in Syrien gehen weiter, schon über 800 Menschen sind bisher ums Leben gekommen. Auch wenn kaum jemand mit einer derartigen Eskalation gerechnet hatte, war der Unmut jungen Syrern schon vor Jahren anzumerken.
An der Wand der Pfarrei der griechisch-katholischen Kirche von Hama hängt ein Bild von Maria mit dem Jesuskind, darüber ein Kruzifix. Schräg gegenüber hängt das Portrait von Syriens Präsidenten Baschar al-Assad, der 2000 die Macht von seinem verstorbenen Vater Hafiz al-Assad übernahm.
Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind Christen, die sich in Syrien im Großen und Ganzen in dem System wohl fühlen. Die Worte von Youssef Jabbour, einem syrisch-evangelischen Pastor, klingen mir noch im Ohr: »Ich danke Gott für unsere Regierung! Denn anders als im Irak oder in Ägypten werden in Syrien die Christen geschützt.« Was würde aus den Christen werden, wenn ein sunnitischer Herrscher die Macht ergriffe? Das waren die Sorgen im Sommer 2009.
Der Assad-Clan, selbst der schiitischen Minderheit der Alawiten angehörend, hat es mit der Sicherheit der Christen und der Erhaltung von Ruhe und Ordnung immer ernst genommen. Wenn es brenzlig wurde wie 1982, als die fundamentalistische Muslimbruderschaft in Hama einen Putsch plante, antwortete das Regime mit harter Hand: Baschars Vater Hafiz al-Assad ließ damals die mittelsyrische Stadt bombardieren, löschte die Muslimbrüder aus und dabei viele andere – über 20.000 Menschen kamen ums Leben.
»Da wusste ich, dass er für den Geheimdienst arbeitet«
Bei den wenigen Protesten, die das Assad-Regime in vierzig Jahren an der Macht erlebt hat, hielten sich die arabischen Christen eher zurück. Minderheitenschutz steht für sie vor Regimewechsel, Stabilität vor Demokratisierung. Die Regierung spielt die ihr vertraute Rolle und hält schützend die Hand über die Christen. Das Sicherheitspersonal vor den Kirchen in der Damaszener Hauptstadt wurde jüngst noch einmal erhöht.
Doch der Ärger über das erstarrte Regime hat mittlerweile nahezu alle Schichten im Land erfasst. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen, die im syrischen System einen schweren Stand haben, sind seit Mitte März bei Freitagsprotesten und landesweiten Kundgebungen an die 800 Menschen getötet und Tausende inhaftiert worden. Der Protest hat sich von der Widerstandshochburg Daraa auf die Hauptstadt Damaskus und jetzt auch auf die zweitgrößte Stadt Aleppo im Norden Syriens nahe der türkischen Grenze ausgeweitet.
Vor zwei Jahren war den jungen Muslimen in Aleppo zwar Unmut anzumerken, doch das Wort »Revolution« kam ihnen nicht über die Lippen. Ich sprach 2009 mit einem Anglistikstudenten an der Universität Aleppo. Er spielte gerade mit dem Gedanken, ein Semester in Holland zu verbringen. Zögerlich erzählte er mir: »Ich hatte einen guten Freund an der Uni. Eines Tages diskutierten wir über den Irakkrieg, als er plötzlich zu mir meinte: Sag besser nichts mehr in meiner Anwesenheit, denn ich muss es aufschreiben. Da wusste ich, dass er für den Geheimdienst arbeitet.«
»Eine Revolution kann es nur von innen geben«
Alle hohen Militär- und Verwaltungsposten sind in Syrien von Alawiten und Mitgliedern der Assad-Familie besetzt. Autokratische Herrscher wie die Assads brauchen ein dichtes Netz aus Geheimdienst und Polizei, um sich an der Macht zu halten. Und sie brauchen Panzer, wie sich in diesen Tagen zeigt. Anders als in Ägypten hält in Syrien das Militär zur Führung und nicht zu den Massen.
Ich fragte vor zwei Jahren Mohammed, einen jungen Optiker, was er in den nächsten Jahren für die größte Herausforderung in Syrien halte: »Die aktuellen Zustände hier aufrechtzuerhalten, während sich die Welt immer mehr öffnet«, antwortete er. Damit meinte er das Internet und die rasanten Veränderungen im Alltag junger Araber, die nun den »Arabischen Frühling« angetrieben haben. Das war prophetisch – doch eine Revolution? Mohammed lachte: »Nein, das Regime wird seine Zügel nicht einfach so aus der Hand geben. Eine Revolution kann es nur von innen, vom Präsidenten ausgehend, geben.«
Tatsächlich wollte sich Baschar al-Assad einen Monat nach Ausbruch der Unruhen im März mit dem Schlüssel zur Veränderung präsentieren. Assad gab im Staatsfernsehen das Versprechen, den seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustand aufzuheben, das er dann auch einlöste. Mit einem weiteren Dekret ließ er zudem offiziell »friedliche Demonstrationen« zu. Doch Assads vermeintlicher Reformwille entpuppte sich schnell Mummenschanz. Schon tags darauf schossen Scharfschützen und Regierungskiller wieder auf Demonstranten.
Die Botschaft des Regimes: Entweder wir oder das Chaos
Assad ist anders als der realitätsfremde Exzentriker Gaddafi oder der Machtmensch Mubarak. Doch das Volk weiß seit einigen Wochen ganz genau, wie weit sein einst sympathischer Diktator bereit ist, im Kampf um die Erhaltung seiner Macht zu gehen. Waren die Forderungen anfangs noch gegen Arbeits- und Perspektivlosigkeit gerichtet, so wollen viele junge Leute nun den Sturz der Staatsführung und einen kompletten Wandel des Systems.
»Veränderung kann nicht passieren, ohne dass Assad beseitigt wird. Seine Reaktion auf die Proteste hat sein wahres Gesicht offenbart«, sagt Mohammed heute. Mohammed, der vor zwei Jahren noch nicht an eine Revolution gedacht hat, weiß jetzt, wie schwierig es ist, Assad vom Thron zu stoßen. Er ist sich nicht sicher, ob sich diese Ära allein mit Protesten beenden lässt oder ob es Schlachten geben muss wie in Libyen. Auch aus Mohammeds Bekanntenkreis wurden Menschen inhaftiert und umgebracht. Und trotzdem werden Syriens Straßen nicht leerer.
»Man sollte eine gute Alternative haben, wenn man Tyrannei bekämpft. Denn ohne Alternativen hilft man womöglich nur einer anderen Tyrannei an die Macht«, meint Simon, ein armenischer Christ aus Aleppo, in einer Email. Seiner Meinung nach haben die Christen allen Grund zur Sorge, dass bei einem Regierungswechsel islamistische Kräfte die Macht ergreifen und den Minderheiten das Leben schwer machen könnten. Ihre Bedenken sind ernst zu nehmen, auch wenn sie damit ins gleiche Horn stoßen wie das Regime. Das will dem Volk vermitteln: Entweder wir oder das Chaos.
Ähnliche Sorgen wurden vom Westen auch auf die ägyptische Revolutionsbühne projiziert. Blutige Anschläge gegen koptische Christen in Ägypten mögen beunruhigen, doch das Zusammenleben der Religionen in Syrien stand bisher auf einer soliden Basis der Toleranz. Anders als in einigen anderen Ländern der Region hatte die gemeinsame arabisch-syrische Identität stets Vorrang vor Glaubensunterschieden. »Bei uns in Damaskus zählt die Nachbarschaft, nicht die Religion«, versicherte mir einmal ein Bewohner der Hauptstadt, die schon viel in ihrer Jahrtausende alten Geschichte mitgemacht hat.