Die kurdische Bewegung organisiert Volksräte, Schulen, Kooperativen und politische Akademien. Doch der Aufbau dieser autonomen Strukturen wird nicht nur durch staatliche Repression erschwert, sondern auch durch die konservativen kulturellen Muster in der eigenen Bevölkerung. Von Hélène Debande aus Van im Südosten der Türkei. „Wir können und wollen die politischen Angelegenheiten nicht mehr für euch regeln“, ruft eine junge Frau in den düsteren Raum. Etwa vierzig Männer mit ergrauten, buschigen Schnurrbärten haben ihre Stühle so nah wie möglich an einen kleinen Ofen geschoben und schauen wortlos nach vorn. Ihnen gegenüber sitzen fünf lokale Bildungsbeauftragte des linken, kurdisch-dominierten Parteienbündnisses HDP („Demokratische Partei der Völker“). Eine der Beauftragten stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und starrt die Versammelten wütend an. „Wir brauchen Verantwortliche, Sprecher, Delegierte. Und wieso habt ihr eure Frauen wieder zu Hause gelassen?“ Nur drei weitere Frauen sind noch im Raum. Sie sitzen am Rande der Versammlung, zwei von ihnen ganz und gar verschleiert, eine in der Uniform des städtischen Ordnungsamtes. Einer der Männer erhebt sich mit wichtiger Geste – er ist der Muhtar, der traditionelle Vorsteher des Viertels. Er habe dies und das regeln wollen, aber das Rathaus habe ihn nicht unterstützt. „Da hat das Rathaus ganz recht! Wenn du etwas regeln willst, dann komm bitte in Zukunft hier in den Rat und besprich es mit den Anderen! Ab jetzt werden die Entscheidungen hier gemeinsam getroffen.“ Er setzt zu einer Widerrede an, aber die junge Frau bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Ein anderer beginnt, trotz des Redeverbotes: „Warum besprecht ihr das nicht erstmal in der Partei, so wie es immer war? Ihr wisst, wir arbeiten alle und haben Kinder zu Hause.“ „Wir haben soviel gelitten“, entgegnet ihm die Frau, „und jetzt schaffen wir es nicht einmal einen Rat zu bilden! Ihr fordert, dass die Stadt eure Straßen repariert, aber fordert keine Rechenschaft vom Staat! Denkt darüber nach! Wir werden morgen zur selben Zeit wieder zusammenkommen. Dann bringt ihr eure Frauen mit und alle Jugendlichen ab zwölf Jahren!“
[slideshow_deploy id='10486'] Eindrücke aus Van: Alle Photos: Hélène Debande
Tiefe Muster – neues Denken Dieses Gespräch aus dem Gründungstreffen eines Viertelrates in der Region Van steht exemplarisch für einige der Probleme, auf die die basisdemokratische Organisierung der kurdischen Bewegung wohl überall stößt. Die konservative sunnitisch-islamische Gesellschaft scheint als Umfeld für eine solche Bewegung auf den ersten Blick ungeeignet – Frauen verlassen kaum das Haus, sind an äußerst unsichtbare Rollen gebunden, die traditionellen Hierarchien sind überall wirksam und spürbar. Und das „Neue Paradigma“, das sich vor allem nach der Inhaftierung Öcalans durchgesetzt hat, ist offensichtlich vielen Menschen der älteren Generation noch nicht allzu präsent. Statt dem sozialistisch inspirierten, nationalen Befreiungskampf mit seiner allgegenwärtigen Partei soll es nun um Basisdemokratie, Geschlechtergleichheit und Ökologie gehen. Das neue Denken, obwohl es momentan ebenfalls noch größtenteils von Parteikadern gestreut wird, soll die Menschen dazu befähigen, sich nicht nur von den traditionellen Herrschaftsstrukturen und kulturellen Mustern, sondern eben auch von den eigenen zentralisierten Institutionen zu lösen. Hierfür ist die Bildung von zentraler Bedeutung – d.h. vor allem die Schriften Öcalans. Diese paradoxe Situation – ein politischer Führer und prophetischer Denker, der die Frauen und den Rest der Gesellschaft dazu führen will, sich selbst zu führen – ist permanent gegenwärtig, scheint aber niemanden wirklich zu stören. Widersprüche zwischen der Theorie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind weit verbreitet: der allergrößte Teil der Frauen, auch in den PKK-nahen Familien, lebt ein orthodox-islamisches Leben. „Unsere kulturellen Muster sitzen sehr tief“, sagen die Männer immer wieder, während sie sich auf dem Sofa von einer Frau Tee servieren lassen. Die Bildung, die diese Muster in Zukunft auflösen soll, findet sowohl in Einzelgesprächen, in Ansprachen, als auch in großen Akademien, also im Gruppenunterricht, statt. Die kurdische Sprache ist dabei gleichzeitig Mittel und eines der wichtigsten Ziele der Bildung, denn einer der Inhalte der Selbstverwaltung ist der freie Gebrauch des Kurdischen – das jahrzehntelang verboten war – in allen Institutionen. Selbstorganisation Frauen organisieren sich indes nicht nur in parallelen Frauenräten, die neben den gemischten existieren. Sie haben sich auch ökonomische Strukturen geschaffen, die ihnen ein eigenes, von den Männern unabhängiges Einkommen sichern. In Van, wie auch in anderen Städten, gibt es Frauenkooperativen für Handwerk und Landwirtschaft. Es ist sogar die Umgestaltung einer ganzen Straße geplant, in der ausschließlich Frauen ihre Produkte in eigenen Läden verkaufen können. Viele dieser Fraueninstitutionen existieren aber bisher größtenteils theoretisch – d.h. sie werden von verhältnismäßig wenigen Parteikaderinnen und Sympathisantinnen aufrecht erhalten, während der größere Teil der Frauen weiter in traditionelleren Rollen lebt. In der gesamten Nordkurdistan genannten Region, also der Südosttürkei, finden sich mittlerweile nichtstaatliche Schulen, die gewöhnlich Nachhilfeunterricht geben, gleichzeitig aber die zukünftigen autonomen kurdischen Schulen sein sollen. In diesen Schulen wird der Unterricht komplett auf Kurdisch stattfinden und die Philosophie Öcalans bildet, neben geläufigeren Fächern, eine wichtige Grundlage. Der PKK-Führer wird meist eher als ein „Prinzip“, denn als ein Mensch (oder gar als Mann) verstanden. Einer der Begriffe, mit denen er am häufigsten bezeichnet wird, ist „die Führung“. Obwohl sein Portrait sehr häufig zu sehen ist, betonen parteinahe Bildungs-Beauftragte, dass es eher um seine Bücher und Konzepte geht, als um seine Person. Den neuen kurdischen Schulen sollen gleichzeitig Freiheiten in der Ausrichtung ihrer jeweiligen Lehrpläne gelassen werden. Auch im kulturellen Bereich wurden staatsunabhängige – und auch hier halblegale – Institutionen gegründet, wie zum Beispiel eine Hochschule, in der Musik, Film und Kunst mit kurdischem Hintergrund unterrichtet werden. Die Idee des Demokratischen Konföderalismus sieht vor, dass auch andere ethnische Minderheiten – in der Region Van wären das beispielsweise die Lasen – in ihrer jeweils eigenen Sprache kulturelle Bildung entwickeln. Dieser Ansatz von ethnischer (und religiöser) Diversität soll sich theoretisch auch auf Bereiche wie die politische Theorie ausweiten und für Menschen jeden Hintergrundes offen stehen. Dies scheint aber noch Zukunftsmusik, denn bisher nehmen nur äußerst wenige Menschen an dem System teil, die nicht aus dem direkten Umfeld der kurdischen Bewegung kommen. Der größte Teil der Räte bildet sich aus sunnitischen Kurd_innen, deren Familien schon seit Jahrzehnten zur PKK gehören. Lokale Ökonomien Einer der am wenigsten entwickelten – obwohl offensichtlich wichtigen – Bereiche der Selbstorganisation in Van ist der Aufbau von selbstständigen, lokalen Ökonomien. Es wird immer wieder, ohne diese Idee konkret auszuführen, von der geplanten gemeinsamen Bewirtschaftung der Anbauflächen gesprochen. Die angedachte ökologisch-demokratische Wirtschaftsweise wird sich aber weniger auf eine Kollektivierung im sowjetischen Stil stützen, als auf die familien- und gemeinschaftsgetragene gegenseitige Hilfe in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Hier, wie auch in vielen anderen Bereichen, scheint eine intensivere Vorbereitung nicht notwendig, weil viele Vorstellungen sich stark an den eigenen, lokalen Traditionen orientieren und daher wenig utopisch erscheinen. In der Stadt Van wurde vor einigen Monaten ein Kooperativ-Markt eröffnet, in dem Ehrenamtliche lokale und in Kooperativen produzierte Nahrungsmittel verkaufen. Der Markt erwirtschaftet durch ein Preisstaffelungssystem Überschüsse, die kollektiven Zwecken zu Gute kommen und bezahlt höhere Preise für die Produkte aus den Frauenkooperativen. Er soll als Vorbild für eine großflächige Umgestaltung der Ökonomie Vans dienen. Allerdings fehlt es noch an den nötigen Produktionsmitteln und die Bauern der Umgebung haben bisher nicht genug Vertrauen, sodass der größere Teil des Angebots immer noch aus dem Großmarkt stammt. An allen diesen Beispielen sind die Bemühungen zu erkennen, die verschiedene Teile der Gesellschaft für eine Selbstermächtigung unternehmen. Gleichzeitig darf man sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele der Strukturen und Inhalte von zentral gesteuerten Institutionen kommen und der Rückhalt in der Bevölkerung oft viel kleiner ist, als man zuzugeben bereit ist. In allen Teilen der Stadt Van, und auch in den meisten Dörfern der Region, kommen aber mittlerweile an mehreren Tagen der Woche Menschen zusammen, um die Bildung von Räten und Kommissionen voranzutreiben – trotzdem die Situation sehr angespannt ist, und selbst die Teilnahme an Veranstaltungen dieser Art staatliche Verfolgung nach sich ziehen kann. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung rufen die jeweiligen lokalen Räte offiziell die Selbstverwaltung für ihre Gemeinden aus, einer nach dem anderen, was meist die Verhaftung der Ratsvorsitzenden nach sich zieht. Doch immer gibt es dann sofort einen anderen Menschen, der ihre Rolle übernimmt. Fast täglich finden Zeremonien zum Gedenken an die Toten statt – besonders die gefallenen Kämpfer_innen der Guerilla werden geehrt. In großen, geschlechtergetrennten Versammlungen werden Koranverse von Imamen rezitiert, woraufhin eine einfache Mahlzeit an die Gemeinde ausgeteilt wird. Diese Veranstaltungen finden in speziell dafür errichteten Gebäuden, Taziye Evi gennant, statt, die oft auch für die Ratssitzungen genutzt werden. Es ist ein permanentes Spiel, ein Kampf um Deutungshoheit und räumliche Einflusssphären: Gibt es dich und mich, oder gibt es uns nicht. Wie das Spiel ausgehen wird, ist schwer abzusehen. Dass die kurdische Bewegung es, wie in Nordsyrien, schaffen wird, tatsächlich autonome Regionen aufzubauen, ist aber fraglich, weil der Staat militärisch übermächtig und die Bevölkerung unsicher und uneinig ist. Die Strukturen der Selbstorganisation wurden in jedem Fall erheblich geschwächt durch das Wiederaufflammen der bewaffneten Kämpfe. Viele Menschen fühlen sich daher an die Neunziger Jahre erinnert – auch heute gibt wieder an jedem Tag Tote zu beklagen und viele Aktivitäten müssen im Geheimen stattfinden. Es scheint aber auch, als würden gerade die großen Schwierigkeiten, mit denen die kurdische Bewegung konfrontiert ist, ihren Willen zur Selbstbestimmung und ihr Kreativität in der Erschaffung einer nachhaltigen Gesellschaftsform immer weiter stärken. Gerade jene Diskussionen, die beim Aufeinandertreffen von Theorie und gesellschaftlicher Wirklichkeit entstehen, sind die Grundlage politischen Wandels – weil es niemanden gibt, der sie für beendet erklären kann.