27.05.2020
Albanien: Demokratie mit der Abrissbirne?
Kritiker*innen der neuen Theaterpläne wittern Korruption. Foto: Pixabay
Kritiker*innen der neuen Theaterpläne wittern Korruption. Foto: Pixabay

Nach langer Debatte über die Zukunft des albanischen Nationaltheaters, wurde es nun einfach abgerissen. Die lokale Kulturszene vermutet mehr dahinter als Stadtplanung auf dem Reißbrett. Und kritisiert einen Netflix-Stararchitekten.

Sie kamen um vier Uhr dreißig morgens. Als die Baggerschaufel in der Nacht zum 18. Mai ins Theater einschlägt, schlafen verbarrikadierte Schauspieler*innen und Unterstützer*innen im Inneren. Sicherheitskräfte schleppen sie aus dem historischen Gebäude, von dem bald nur noch Schutt übrig ist. Nach einer zweijährigen Debatte über die Zukunft des albanischen Nationaltheaters in Albaniens Hauptstadt Tirana, kam der Abriss für viele am Ende doch überraschend  – und dazu inmitten der Corona-Pandemie.

Die italienisch-albanische Journalistin und Aktivistin Fioralba Duma vermutet dahinter ein Kalkül: „Sie haben für den Abriss genau den Zeitpunkt ausgewählt, in dem die Demokratie schwach ist.“ Sie – gemeint ist die Regierung von Ministerpräsident Edi Rama.

Der Vorsitzende der Sozialistischen Einheitspartei (PS) Rama und sein Parteikollege, der Bürgermeister Tiranas Erion Veliaj, haben ihre eigene Vision vom Skanderbeg-Platz, auf dem bis vor einigen Tagen auch das Nationaltheater stand: Hochhäuser mit Büros und Wohnungen sollen hier entstehen, eine Shopping Mall – und ein neues Nationaltheater. Für Rama und seine Mitstreiter*innen ist das Großprojekt Ausdruck der urbanen Transformation Tiranas, ein Zeichen für die Modernisierung Albaniens. Für ihre Kritiker*innen sind die Pläne der Inbegriff von Intransparenz auf Kosten des nationalen Kulturerbes.

Das Theater als Symbol

Im futuristischen Stil nach Plänen des italienischen Architekten Giulio Bertè erbaut, entstand das Nationaltheater zunächst als Kino und Kulturzentrum im Jahr 1939. Kurz zuvor hatte das faschistische Italien Albanien auf der gegenüberliegenden Uferseite des Adriatischen Meeres besetzt. Die sozialistischen Machthaber*innen um Enver Hoxha hielten in den Sälen später ihre ersten Schauprozesse gegen politische Gegner*innen ab, ehe sie das Gebäude 1947 zum Nationaltheater erklärten. Ambivalenz steckte also bereits in seinen Grundmauern. Gleichzeitig ist nun das Theater tief mit der Geschichte Albaniens im 20. Jahrhundert und dem kulturellen Leben Tiranas verbunden: das erste professionelle Theateressambe trat auf seinen Bühnen auf, genauso wie das erste Ballett.

So sieht es die „Allianz zum Schutz des Theaters“, zu der etwa 60 aktive Mitglieder zählen. 2018 begannen die Kunstschaffenden und Intellektuellen zu mobilisieren, nachdem die Regierung den Denkmalschutz des Gebäudes aufgehoben, und seinen Abriss angekündigt hatte. Erst wöchentlich, dann täglich, organisierte die Allianz rund um das Theater Diskussionsveranstaltungen und Aufführungen. Nach einer ersten Auseinandersetzung mit der Polizei im Juli 2019 besetzten die Aktivist*innen das Gebäude, richteten rund um die Uhr einen Wachschutz ein. Längst war das Theater zum Symbol geworden. Noch im April 2020 hatte der Denkmalschutz-Verband „Europa Nostra“ in Den Haag das alte Theater zu einem gefährdeten Kulturgut Europas erklärt.

Was die Unterstützer*innen des Theaters bereits vor seinem Abriss kritisierten, war neben Intransparenz, die fehlende Bürger*innenbeteiligung bei der Neugestaltung und Privatisierung des Areals. Mehrfach hatte es von Seiten der regierenden Politiker*innen geheißen, dass man selbst kein Geld für die Modernisierung des baufälligen Theaters habe.

Durch ein Sondergesetz wollte die Regierung 2018 ermöglichen, öffentliches Land auch ohne Ausschreibung an private Investor*innen zu verkaufen. Präsident Ilir Meta weigerte sich, den Entwurf zu unterschreiben und legte das Gesetz dem Verfassungsgericht vor. Als Voraussetzung für den Beitritt Albaniens, überprüft die EU aber gerade die Jurist*innen des Landes. Paradoxerweise führt dieses Prozedere, dass Albanien zu mehr Rechtsstaatlichkeit verhelfen soll, dazu, dass das Verfassungsgericht momentan nicht funktionstüchtig ist.

Vollendete Tatsachen trotz Bedenken

Noch vor der Diskussion um das Sondergesetz stand bereits das Design für das neue Nationaltheater fest: Eine außergewöhnliche Schleifenform im Wert von 30 Millionen Euro, entworfen von der Bjarke Ingels Group (BIG). New York, Frankfurt, Singapur: Mit seinem Motto „Yes is more“ gehört der Däne Ingels derzeit zu den am meisten gefeierten Architekt*innen der Welt.

Feuertons großer Medien lechzen nach Ingels Entwürfen zwischen Utopie und Nachhaltigkeit, die Netflix-Serie „Abstract“ widmete ihm eine ganze Folge. „Wir versuchen Architektur inklusiv zu machen und die Inputs jeder*s Einzelnen einzubeziehen, so dass er zu unserem Antrieb wird“, zitieren die Macher*innen der Serie Ingels darin: „Wir hören nicht auf, bis wir jedes Bedenken miteinbezogen haben, sollte es noch so klein sein.“ In Albanien, einem Land mit 2,8 Millionen Menschen, wo die „Allianz zum Schutz des Theaters“ auf Facebook immerhin 17.000 Follower*innen hat, scheint das nicht zu gelten.

Offizieller Auftraggeber von BIG in Tirana ist „Fusha Shpk“, eine Baufirma, mit der die Stadt Tirana zum wiederholten Male eine öffentlich-private Partnerschaft eingegangen ist. Kritiker*innen wittern Korruption.

„Die Einbeziehung Bjarke Ingels ist nur ein weiteres Beispiel für die postkoloniale Gleichgültigkeit der Westeuropäer*innen, die lukrative Geschäfte mit lokalen Autokrat*innen machen und damit davonkommen, weil sie zu Hause niemand zur Rechenschaft zieht“, sagt die albanische Schriftstellerin Lindita Komani im Interview mit dis:orient. Komani ist ebenfalls Teil der „Allianz zum Schutz des Theaters“. 

Journalistin Fioralba Duma, die die Proteste begleitet und unterstützt, merkt an, dass Tirana wie ein geschichtsloser Ort behandelt werde. Statt albanische Kultur und Architektur zu integrieren, strebe das Bauvorhaben am Skanderbeg-Platz nach der Silhouette einer x-beliebigen Weltstadt. Darüber könnten auch die albanischen Flaggen nicht hinwegtäuschen, die in den Entwürfen auftauchen.

Wachsender Widerstand

Erst im Januar 2020 kritisierte die britische Zeitung The Guardian Ingels in einem Artikel mit dem Titel „Das Dilemma der Despoten: Sollen Architekten für repressive Regime arbeiten?“. Darin wird Ingels für seine Projekte in Brasilien und Saudi-Arabien angegriffen. Während der Architekt auf die Kritik einging, hält er sich mit Aussagen über das Nationaltheater in Albanien zurück. Am Tag, als das alte Gebäude abgerissen wurde, retweetete Ingels einen Beitrag des Tiraner Bürgermeisters Erion Veliaj, der sich über den Bau des „architektonischen Juwels“ freute.

An Tirana versucht sich der dänische Architekt bereits zum zweiten Mal. 2011 wurde BIG mit dem Bau eines Gebäudekomplexes beauftragt, der eine Moschee, ein islamisches Zentrum und ein Museum für religiöse Vielfalt umfassen sollte. Bürgermeister war zu diesem Zeitpunkt der heutige Ministerpräsident und früherer Künstler Edi Rama. Damals gab es eine Ausschreibung, gebaut wurde letztendlich nicht. Die nachfolgende Stadtverwaltung unter Führung der konservativen Demokratischen Partei (PD) konzentrierte sich auf andere urbane Pläne.

Was den Bau eines Nationaltheaters betrifft, beklagen mittlerweile mehr als 400 Kunstschaffende aus aller Welt den rabiaten Abriss des alten Gebäudes in einem offenen Brief. Die „Allianz für den Schutz des Theaters“ mobilisiert nach eigenen Aussagen zum landesweiten Protest und verlangt in einem Statement nicht nur den Wiederaufbau des Theaters: „Wir fordern Gerechtigkeit und Demokratie“, heißt es darin. Und weiter: „Nur durch die Absetzung der Regierung können wir erreichen, dass eine neue Ära für Albanien anbricht, in der wir Europa mit Kunst, Kultur und unserem Erbe beitreten.“

Erst im März 2020 verkündete der Europäische Rat den nächsten Schritt für eine EU-Mitgliedschaft Albaniens: Die aktiven Beitrittsverhandlungen hätten begonnen. Die Politik der vollendeten Tatsachen könnte für die Regierung Rama nun zum Plot-Twist werden.

 

Anna-Theresa Bachmann arbeitet als freie Reporterin mit den Schwerpunkten Westasien, Nordafrika und Südkaukaus für Medien wie Die Zeit, der Spiegel, Deutschlandfunk und andere. Sie hat in Marburg, Lund und Kairo Nahostwissenschaften studiert und koordinierte bis Jahresbeginn 2022 zwei Jahre lang das dis:orient Magazin. Anna-Theresa ist Mitglied...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht