International bekannt wurde die syrische Kleinstadt al-Hula im Jahr 2012 durch Massaker. Doch der Ort lebt weiter – auch heute, im sechsten Jahr nach Beginn des Aufstands. Alsharq zeigt in einer Serie am Beispiel der Stadt, wie Leben und zivile Selbstorganisation im heutigen Syrien funktionieren. Zu Beginn stellt Ansar Jasim den Ort vor.
„Heute führt das unterdrückerische syrische Militär eine verrückte Militärkampagne in mehreren Städten und, wie es scheint, auch in Richtung al-Hula durch“, schrieb ein Aktivist des Syrian Citizen-Blogs am 1. August 2011. Seit März 2011 hatten hunderttausende Menschen in ganz Syrien friedlich protestiert. Der Aktivist schreibt weiter: „Viele haben noch nie von dieser Gegend Syriens gehört, deswegen habe ich diesen Post verfasst.“
Tatsächlich haben viele SyrerInnen mit dem Ausbruch der Revolution eine Geographie der Gewalt als Ersatz zu herkömmlichen Karten entwickelt. Das heißt, sie lernen viele Städte Syriens erst durch auf der einen Seite kreative friedliche Bewegungen kennen, und auf der anderen Seite durch die dort verübten Verbrechen des Regimes an der Zivilbevölkerung und an der zivilen, damals noch absolut friedlichen Bewegung.
Al-Hula nimmt unter syrischen Städten früh eine prominente Rolle ein, weil hier im Mai 2012 ein Massaker stattfindet, bei dem 108 Personen sterben, die meisten von ihnen Kinder. Aber lösen wir uns einen Moment von diesen Schrecken und betrachten al-Hula zunächst als die Stadt, die sie war, und die sie ist.
Im Winter stand die Stadt regelmäßig unter Wasser
Von Syrian Citizen lernen wir, dass die Gegend um Al-Hula im Nordwesten des Regierungsbezirks Homs durch landwirtschaftliches Flachland geprägt ist. Es liegt zwischen den beiden historisch und aktuell bedeutenden Städten Homs und Hama, beide jeweils 35 bis 40 Kilometer entfernt. Vor der Revolution waren die beiden Haupteinkommensquellen Geldsendungen von Angehörigen, die im Ausland, insbesondere in den Golfstaaten, Osteuropa und Lateinamerika arbeiten (Remittances) sowie landwirtschaftliche Erzeugnisse. Insbesondere Weizen, Roggen, Kichererbsen, Sesam, Kamoun, Oliven- und Granatapfelbäume und saisonales Gemüse haben nicht nur die Gegend, sondern auch andere Teile Syriens ernährt. Eine Lebensmittel- und eine Plastikfabrik befanden sich hier. Es gab fünf Kulturzentren und mehrere öffentliche Bibliotheken.
Dennoch, die Infrastruktur der Stadt war eher schlecht ausgebaut. „Während des Winters verwandelte sich die Stadt immer in einen großen See, da sich dann das Wasser der umliegenden Berge sammelte“, schreibt Syrian Citizen.
„Die Bewohner von Hula sind wie ein verkleinertes Model von ganz Syrien, was die Bevölkerungszusammensetzung betrifft“, fährt Syrian Citizen fort und meint damit ein buntes, ein gemischtes Syrien aller religiöser und gesellschaftlicher Facetten, Tscherkessen und Turkmenen eingeschlossen. Die 85.000 Einwohner der Region al-Hula leben in mehreren Dörfern, die größten davon sind die Stadt al-Hula und Kafr Laha.
Auch die Sprache der lokalen Bevölkerung verbindet verschiedene syrische Elemente: „Der lokale Dialekt der Hulaner sticht dadurch hervor, dass sie wie die Menschen aus Homs den Beginn von Worten zusammenziehen, das Ende aber langziehen wie die Damaszener. Den Buchstaben a sprechen sie wie ein kurzes i aus, und das kehlige q sprechen sie wie die Leute an der Küste aus“, so der Syrian Citizen.
Kontroverse zwischen F.A.Z. und Spiegel um ein Massaker
Dies ist ein Versuch al-Hula aus der Geographie der Gewalt herauszuholen und der Stadt, wie jeder anderen, ihr Profil zurückzugeben – der Champagner kommt aus der Champagne, Venedig hat Kanäle und Boote… und al-Hula?
Ein Massaker. Wann? 25. und 26. Mai 2012. Konfessionell? Vielleicht. Wer war dafür verantwortlich – das Regime? Vielleicht. Die Rebellen? Vielleicht. Es ist eines der ersten Massaker, die in Syrien nach Beginn der Revolution von 2011 in solchem Ausmaß geschehen. Die meisten Opfer wurden aus nächster Nähe oder in Massenexekutionen erschossen, die wenigsten kamen durch Beschuss oder Bombardierung ums Leben.
Al-Hula hat Eintritt ins deutsche Bewusstsein erlangt mit der Medienkontroverse zwischen FAZ-Reporter Rainer Herrmann und Spiegel-Korrespondent Christoph Reuter. Herrmann bezeichnete es damals als „Wendepunkt im syrischen Drama“, führte Interviews mit angeblichen Überlebenden des Massakers in Damaskus durch (der Stadt, von der SyrerInnen sagen, dass dort auch Wände Ohren haben) und kam zu dem Schluss, dass „sunnitische Aufständische“ das Massaker begangen haben müssen. Christoph Reuter hingegen war illegal und ohne Visum ins Land eingereist, um mit seinem Team vor Ort Recherche zu betreiben. Er sprach mit den Menschen in der Stadt selbst, studierte die Topografie der Gegend und folgerte, dass pro-Regime-Milizen unter Schutz der Armee das Massaker begangen haben müssten.
Danach interessierte die Stadt hierzulande nicht mehr – trotz ihres friedlichen Widerstandes; die Angst, es könnte sich am Ende doch um sunnitische Terroristen handeln, schien wohl zu groß. Dabei waren zum Zeitpunkt des Massakers bereits 12.100 ZivilstInnen durch direkte Regimegewalt ums Leben gekommen.
Das Massaker an der Bevölkerung in al-Hula ist so fest Teil des kollektiven Bewusstseins von SyrerInnen geworden, dass es ein essenzieller Bestandteil wurde in einem der ersten Romane, die sich mit dem syrischen Aufstand beschäftigen (A Melody of Tears: Sorrows of Syria, Anas A. Ismail, New Friends Publishing 2013).
Die hier verübten Gräueltaten blieben so tief im kollektiven Gedächtnis der SyrerInnen verankert, dass bis heute die meisten künstlerischen Beiträge zu der Stadt mit den Massakern, denen insbesondere im Mai 2012 viele Kinder zum Opfer gefallen sind, verbunden sind.
Das Poster, welches der französisch-syrische Künstler Fares Cachoux gestaltet hat, zeigt Bashar al-Assad mit einem Schlachtbeil, versteckt hinter seinem Rücken, und eine Gruppe von Kindern. Ähnlich wie bei Faour war al-Hula ein Wendepunkt auch im künstlerischen Leben von Cachoux. Die Möglichkeiten von Graphicdesign haben dem Künstler Raum gegeben, die Brutalität in Syrien darzustellen, ohne den Betrachter zu verschrecken. Quelle: “ al-Hula ”, ein Poster von Fares Cachoux. Mehr Informationen auf seiner Website: www.behance.net/farescachoux
Die Region al-Hula beteiligte sich, wie weite Teile des Landes, schon früh an den ersten friedlichen Demonstrationen. Das Regime, das von Anfang an auf den militärischen Kampf setzte, schoss in der Stadt die ersten Demonstranten nieder. Einer der Hauptdemonstrationsorte in al-Hula war der „Platz der Uhr“, ein Platz mit einem einige Meter hohen Uhrenturm, wie sie in vielen Städten des früheren osmanischen Reichs zu finden sind. Mit Beginn der Demonstrationen wurden in den meisten syrischen Städten eben diese Orte in „Platz der Freiheit“ umbenannt. Wie an anderen Orten wollten die Demonstranten auch hier das Militär dazu auffordern, sich ihnen anzuschließen. Im Damaszener Vorort Daraya etwa steckte der Aktivist Ghiyath Matar Blumen in die Gewehre der Regime-Soldaten. Dort, ebenso wie in al-Hula, riefen Demonstranten dem Militär entgegen: „Die Armee und das Volk sind eins“, um ihrem gewaltfreien Widerstand Ausdruck zu verleihen
Video aus al-Hula vom Juli 2011
Heute ist die Gegend systematisch drei Waffen des Regimes und dessen Verbündeten ausgesetzt: Seit vier Jahren wird sie belagert und somit von der Nahrungsversorgung abgeschnitten, gleichzeitig werden landwirtschaftliche Flächen gezielt verbrannt. Zudem ist sie ständiger Bombardierung ausgesetzt. Dennoch, die Zivilbevölkerung vor Ort organisiert zivile Infrastruktur wie Schulen und Feldkrankenhäuser selbst. Mit Kampagnen versucht sie, friedlich auf die Situation vor Ort aufmerksam zu machen.
Alsharq wird in den nächsten Wochen verschiedene Aspekte des Alltags der Bewohner von al-Hula betrachten und möchte so dazu beitragen, die Stadt aus der puren Geographie der Gewalt herauszuholen und als eine Stadt mit zivilen Projekten und Menschen ins Bewusstsein des deutsch-sprachigen Lesers zu rücken. Dafür stehen wir auch mit Einwohnern vor Ort in Kontakt.
Die Themenreihe wird sich unter anderem mit der selbstorganisierten Bildung und dem Alltag eines Lehrers vor Ort beschäftigen, der Krankenversorgung und der Aufrechterhaltung einer simplen medizinischen Infrastruktur, sowie mit der Gefahr der Umsiedlung der BewohnerInnen der Stadt.