Transkulturalismus, ein Phänomen der Postmoderne? Keinesfalls! Wie die Arabistin Isabel Toral-Niehoff herausgefunden hat, gab es bereits in der Spätantike Orte, die dem heutigen Berlin stark geähnelt haben müssen. Ein Interview von Isabelle Galioit
Dr. Isabel Toral-Niehoff, Dozentin für Arabistik in Göttingen und Berlin, veröffentlichte 2013 die Monographie „Al-Hira. Eine arabische Kulturmetropole im spätantiken Kontext“. Sie beschreibt darin eine spätantike Stadt zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert nach Christus im Gebiet des heutigen Irak, die durch das friedliche Zusammenleben verschiedenster Völker geprägt war – und dies lange noch vor Begriffen wie Melting Pot und Multikulti. Für ihr Buch erhielt Toral-Niehoff den „World Award for the book of the year of the Islamic Republic Iran“. In der Rezeption wurde ihr Buch – das ins Persische und Arabische übersetzt werden soll – als wichtiges Bindeglied für einen persisch-arabischen Frieden gelobt.
Isabelle Galioit: Frau Toral-Niehoff, wie kam es zu Ihrem Buch „Al-Hira“?
Isabel Toral-Niehoff: Ich hatte schon im Jahre 2004 erste Forschungen zu al-Hira unternommen. Als ich auf einem Vortrag in London desselben Jahres über die christlich-arabische Bevölkerung in al-Hira sprach, war ich sehr gerührt, so viel positives Feedback zu erhalten. Eine christlich-arabische Familie aus dem Irak, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ihr Heimatland hatte verlassen müssen, dankte mir dafür, dass ich Ihnen bestätigte, dass Christen schon über einen sehr langen Zeitraum im Irak angesiedelt waren – eben auch in der vorislamischen Zeit. Diesen Menschen wurde unter der Regierung Saddam Husseins eingeredet, Christen gehörten nicht zum Irak, denn sie seien keine Araber. Dies ist historisch nicht korrekt.
Wer lebte denn in al-Hira?
Neben Zoroastriern, Polytheisten und womöglich auch Manichäern lebten in al-Hira sehr viele Christen verschiedener Konfessionen, vor allem Nestorianer und Jakobiten. Viele von ihnen waren sesshaft gewordene Beduinen, die, beispielsweise überzeugt von christlichen Wunderheilern, vom polytheistischen Glauben zum Christentum konvertiert waren. Sie nahmen eine Vermittlerrolle zwischen städtischen und beduinischen Arabern, zwischen Iranern, Syrern und Römern ein. Wir wissen auch, dass in der Nähe von al-Hira die babylonische Stadt Sura lag, die über eine große jüdische Akademie verfügte. Vermutlich lebten also auch Juden in al-Hira.
Das Titelbild in voller Länge zeigt den Bau des Forts von Karnaq, vermutlich in al-Hira. Künstler: Kamal ud-din Behzad, 1494-95. Creative Commons by Wikipedia Commons (Public Domain).
Wieso versammelten sich diese Menschen denn ausgerechnet dort?
Einerseits befand sich al-Hira im südlichen Zweistromland an einer Flussoase – ein sehr attraktiver und fruchtbarer Standort, an dem Handel und Landwirtschaft blühten. Des Weiteren dürfte das Klima die ein oder anderen angelockt haben, denn es war nicht so schwül und mückengeplagt wie im nahen sumpfigen Babylonien, das in etwa dem heutigen Südirak entspricht. Nicht weit von al-Hira befand sich ab 645 n. Chr. die islamische Stadt Kufa, ein wichtiges kulturelles und politisches Zentrum. Den Gelehrten, die dort angesiedelt waren, verdanken wir die verschriftlichten Aufzeichnungen über das Leben in al-Hira. Zudem dürfen wir davon ausgehen, dass die Stadtkultur von al-Hira auch inspirierend auf das spätere Bagdad wirkte.
In aller Kürze: Zu welcher Haupterkenntnis sind Sie gelangt?
Ich konnte in meinem Buch herausstellen, dass der Islam multikulturelle Wurzeln hat und auf einer Tradition der Toleranz und kulturellen und religiösen Vermischung aufbaut. Es zeigt auch, dass es pluralistische Gesellschaften nicht nur im heutigen New York und Berlin gibt, sondern solche Metropolen schon vor sehr langer Zeit existierten.
Sie meinen also, dass man das heutige Berlin mit dem damaligen al-Hira vergleichen kann?
Definitiv! Berlin ist bunt, ohne besonders konfliktreich zu sein. Darin ähneln sich die beiden Städte sehr.
Wie sieht das für Sie, als Wahl-Berlinerin, im gelebten Alltag aus?
In Berlin treffen ethnische, sprachliche und religiöse Lebensweisen aufeinander, die nicht nur nebeneinander leben, sondern sich auch überlappen und nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Es gibt jede Menge Menschen, die Hybride sind und sich zwischen den Etiketten befinden. Berlin ist nicht multikulti, sondern vielmehr transkulturell. In den 1980er Jahren war Multikulturalismus die Utopie der Linken schlechthin. Als Angela Merkel das Konzept „multikulti“ für gescheitert erklärte, dachte sie wohl nicht daran, dass es viele Menschen gibt, für die eine Zuordnung zu „einer“ Kultur gar nicht möglich ist und für die eine solche Aussage gar keinen Sinn hat. Wir müssen umdenken: Berlin ist eine transkulturelle Gemeinschaft. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Nicht die Kulturen überschneiden sich, sondern viele Menschen selber sind eine multikulturelle Überschneidung und leben diese!
Was meinen Sie damit?
Sich für eine Kultur entscheiden zu müssen, ist für viele Menschen nicht möglich, das weiß ich als Spanierin und Deutsche, das wissen Sie als „Halbfranzösin“. Menschen, die in mehreren Kulturen zugleich aufgewachsen sind, haben von klein auf gelernt, aufmerksam auf die kleinen Unterschiede zu achten, sie zu akzeptieren und sich mit anderen dennoch zu verständigen. Sie wissen, dass alles auch ganz anders gehen kann, denn das kennen sie von zuhause; es gibt eben nicht nur ein „richtig“. Und genau diese Mischung, diese simultane Sym- und Empathie für mehrere Seiten, bereichert unseren Horizont und dadurch auch das friedliche Zusammenleben.
Transkulturelle Menschen fungieren also als Sprachrohr in einer vielseitigen Gesellschaft?
Ja, genau! Sie nehmen eine Vermittlerrolle ein. Und das Interessante daran ist, das es all das schon in der Spätantike gegeben hat. An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal Wolfgang Welsch korrigieren, der gesagt hat, Transkulturalität sei eine Sache der Moderne. Das stimmt schlichtweg nicht. Gewissermaßen gab es auch schon Globalisierung sehr früh.
Al-Hira war also auch transkulturell?
Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der Dichter Adi b. Zayd: ein christlicher städtischer Araber, der Beduinenpoesie verfasste, aber auch Persisch und Aramäisch sprach und am persischen Hof ein und aus ging. Er war dreisprachig, „transkulturell“ und konnte somit als „broker“ zwischen den verschiedenen Lagern seiner Zeit vermitteln.
Vielen Dank für das Gespräch!