Erneut sind in Kairo elf vermeintlich homosexuelle Männer unter dem Vorwurf der Prostitution festgenommen worden. Diese Festnahmen sind Ausdruck einer langen Kette staatlicher Repressionen gegen die ägyptische LGBTQ-Community. Der Rechtsanwalt Islam Khalifa, der die Angeklagten vertritt, berichtet im Interview von der juristischen Praxis in Ägypten und dem Umgang mit Homophobie.
Eine Razzia in einem Kairoer Badehaus erregte im Dezember 2014 internationale Aufmerksamkeit. Dabei wurden vor laufenden Kameras 26 Männer festgenommen und anschließend wegen „Sittenwidrigkeit“ angeklagt. Islam Khalifa, der damals für die „Egyptian Initiative for Personal Rights“ arbeitete, vertrat 14 der Angeklagten. Es war für ihn nicht der erste Fall jener Art. Zwei Monate zuvor hatte er bereits sieben Angeklagte im ebenfalls international bekannt gewordenen Prozess über eine vermeintliche „Schwulenhochzeit“ auf einem Nil-Boot vertreten. Momentan strebt Khalifa seinen zweiten juristischen Master-Abschluss mit der Spezialisierung in Menschenrechten an der Central European University in Budapest an. In Ägypten beginnen derweil in einer Woche die Parlamentswahlen.
Islam Khalifa: In der Tat wird Homosexualität nach ägyptischem Recht nicht unter Strafe gestellt. Aber es werden regelmäßig Strafanzeigen gegen Mitglieder der LGBTQ-Community ausgesprochen, gemäß dem 10. Gesetz aus dem Jahr 1961 über „Prostitution und gewohnheitsmäßige Unzucht“. Das Gesetz zählt die verbotenen Handlungen aber nicht eindeutig auf, sondern bleibt sehr vage.
Diese unbestimmten Rechtsbegriffe sind dann Grundlage der Anklage: Da es nach ägyptischem Gesetz keine eindeutige Definition von „gewohnheitsmäßiger Unzucht“ gibt, können diese Bestimmungen ebenso umfassend wie willkürlich strafrechtlich ausgelegt werden. Was die AnklägerInnen betrifft, so gibt es sogar eine Abteilung im Innenministerium, die „Abteilung zum Schutz der öffentlichen Moral“ oder auch „Sittenpolizei„“ genannt wird. Dieses Department stellt den Opfern dann zunächst eine Falle, zum Beispiel mit fingierten Verabredungen zu falschen Dates, um anschließend die Verhaftung zu vollziehen.
Oft treten Verwandte, FreundInnen, AktivistInnen oder eine NGO an uns heran. Sobald wir wissen, wo die Opfer festgenommen wurden, arrangieren wir ein Treffen an dem Ort der Inhaftierung. In einigen Fällen kontaktieren Sie uns aber auch direkt selbst, nachdem sie über unsere bisherige Arbeit lesen, die über die Presse oder über soziale Medien verbreitet wird. Ein positives Ergebnis bei der Verteidigung in solchen Fällen hängt von verschiedenen Faktoren ab: Die Fakten des Falles selbst, eine angemessene Vertretung und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sind wichtig.
Nicht wirklich, gegen politische AktivistInnen neigen die Behörden zu anderen Anschuldigungen, wie Verstöße gegen das Demonstrationsrecht oder dem Vorwurf der Pöbelei.
Das Gesetz zu „Prostitution und gewohnheitsmäßiger Unzucht“, das verwendet wird, um die Mitglieder der LGBTQ-Community anzuklagen, stammt aus dem Jahr 1961. Die darin gemachten Anklagepunkte haben sich in den letzten 54 Jahren nicht verändert. Aber die Zahl der Fälle hat sich in den letzten zwei Jahren erhöht.
Nein. Selbst während der Revolution, als die Menschen Interesse an neuen Perspektiven und Forderungen hatten, gab es ein weit verbreitetes Sprichwort unter jungen Menschen, wenn sie Ihre Teilnahme an dem Aufstand verteidigen mussten: „Jeder hat das Recht zu protestieren, auch homosexuelle Menschen.“ Die konservative Denkweise war immer noch dominant im kollektiven Geist der meisten Revolutionäre von 2011.
Ja, die gibt es. Rechtlich gesehen ist „gewohnheitsmäßige Unzucht“ ein Strafbestand, der nur auf Männer angewendet und dazu benutzt wird, um männliche „Prostituierte“ zu belangen. „Prostitution“ selbst ist in der Auslegung des ägyptischen Gesetzes dagegen nur als Grundlage für eine Anklage gegenüber Frauen verwendbar. Allerdings haben beide Delikte den gleichen Tatbestand und die gleiche Sanktionsfolge.
Die Begriffe „gewohnheitsmäßige Unzucht“ und „Prostitution“, die im Rahmen des Gesetzes Nr. 10 verwendet werden, haben nichts mit der gesellschaftlichen Beurteilung von männlicher oder weiblicher Homosexualität zu tun. Die Unterscheidung beruht auf der sprachlichen Herkunft, die durch die Gesetzgeber aufgegriffen wurde: Demnach wird das klassische arabische Wort für „Unzucht“ nur für Männer und „Prostitution“ nur in Verbindung mit Frauen benutzt. Aber es gibt mehr Fälle von männlichen Angeklagten als von Frauen. Das mag viele Gründe haben, vor allem aber die gesellschaftliche Ächtung männlicher Homosexualität, die als mehr beschämend gilt. Außerdem ist es einfacher für männliche Polizisten, eine falsche Verabredung zu vereinbaren und Männer somit in eine Falle zu locken.
Nicht nur die absolute Mehrheit der Anwälte, sondern auch viele Staatsanwälte und Richter kennen das Gesetz über „Prostitution und gewohnheitsmäßige Unzucht“ gar nicht. Außerdem ist die gesamte Rechtspraxis ein Teil dieser konservativen Gesellschaft, die Mitglieder der LGBTQ-Community als Sünder ansieht, unabhängig von den Details ihrer Fälle.
Das ägyptische Recht erlaubt es nur Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer Ägyptens oder den Mitgliedern der unterschiedlichen juristischen Instanzen Recht zu sprechen. Allerdings gibt es keine angemessene Ausbildung für die juristische Praxis – weder für AnwältInnen noch für RichterInnen. Die Rechtsanwaltskammer und auch die Justiz tragen schon lange nicht mehr dazu bei, JuristInnen kompetent auszubilden und deren Fähigkeiten und Rechtskenntnisse zu schulen. Es hängt also viel davon ab, wie Recht in der Praxis angewandt und entwickelt wird – oder eben nicht.
Der Staat bietet hierfür jedenfalls keine Unterstützung. Es ist zwar überhaupt nicht schwierig, eine Zulassung als Anwalt in Ägypten zu erhalten. Die wirkliche Herausforderung ist es aber, Fälle kompetent bearbeiten, die fraglichen Gesetzgebung und Entscheidungen thematisieren und diskutieren zu können. Denn die Rechtsanwaltskammer in Ägypten verlangt im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern keine Prüfung oder eine Weiterbildung für die Zulassung. Man benötigt nur einige Dokumente und muss eine Gebühr entrichten, die für frische Absolventen aber eine große Summe voraussetzt.
Ironischerweise war daher der wichtigste Schritt, den ich getroffen habe, um Anwalt zu werden, nach dem Studium in einem Call-Center zu arbeiten. So konnte ich genug Geld verdienen, um die Zulassung als Anwalt zu finanzieren. Nachdem ich meine Lizenz im Jahr 2011 erhielt, arbeitete ich für einige Monate als Unternehmeranwalt. Doch als im Jahr 2012 immer mehr ZivilistInnen vor Militärgerichten angeklagt und verurteilt wurden, was grundlegende Freiheitsrechte beschneidet, schloss ich mich einer Gruppe namens „No to Military Trials“.
So hatte ich meinen ersten Fall vor einem Militärgericht – eine sehr wichtige Erfahrung, die mir zu erkennen half, wie weit das ägyptische Justizsystem von den Grundprinzipien eines fairen Verfahrens entfernt ist. Danach habe ich mit verschiedenen NGOs zusammengearbeitet und dabei meine Leidenschaft für die Arbeit an Fällen zur freien Meinungsäußerung und dem Recht auf sexuelle Freiheit entdeckt.
In den derzeitigen Umständen sind die kommenden Jahre überhaupt nicht vielversprechend. Dennoch könnte die Situation durch die Mitglieder der LGBTQ-Community selbst, die vielen verschiedenen aktiven Gruppen sowie deren rechtliche Unterstützung geändert werden. Eine solche Änderung könnte durch ein zunehmendes Bewusstsein für fundamentale Grundrechte erreicht werden, eine Debatte über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über „Prostitution und gewohnheitsmäßige Unzucht“ und über eine öffentliche Aufmerksamkeit – national ebenso wie international – zu den Rechtsverstößen gegen die Mitglieder der LGBTQ-Community.
Dieses Interview führten Anna-Theresa Bachmann und Jannik Rienhoff im Juli 2015. Es ist in abgewandelter Form bereits in Forum Recht und in englischer Sprache auf verfassungsblog.de erschienen. Anna-Theresa Bachmann studiert Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Marburg und hat zwei Semester in Kairo verbracht. Jannik Rienhoff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften der Uni Marburg.