19.07.2013
2 Millionen Flüchtlinge: die andere Seite des Syrien-Konflikts
Syrische Flüchtlinge in einem Camp im Libanon. Foto: Francesco Fantini / FOS
Syrische Flüchtlinge in einem Camp im Libanon. Foto: Francesco Fantini / FOS

Der Bürgerkrieg in Syrien hält an. Bei zunehmender Brutalität ist kein Ende der Gewalt in Sicht. Inzwischen sind nach UN-Angaben weit über zwei Millionen Menschen aus Syrien geflohen, über vier Millionen sind innerhalb der Grenzen auf der Flucht. Ein Überblick des Forums Focus on Syria, übersetzt aus dem englischen Original von Ansar Jasim.

1.450.000 offiziell registrierte syrische Flüchtlinge und 200.000 SyrerInnen auf den Wartelisten für eine Registrierung: das sind die aktuellen Zahlen des Hochkommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Sie stehen für die riesiege Anzahl von Menschen, die dazu gezwungen wurde, in anderen Ländern des Nahen Ostens Schutz vor dem blutigen Konflikt zu suchen - ein Konflikt der Syrien allmählich zerstört.

Zu diesen Zahlen kommen überdies hunderttausende nicht registrierte Flüchtlinge. Insgesamt ergibt das eine Zahl, die zwei Millionen weit überschreitet. Niemand ahnte, dass es zu einem solchen Exodus kommen würde. Zu Beginn der Krise flohen nurwenige; dann wurde der Auszug stärker und regelmäßiger. Inzwischen kann man von einer richtigen Flut an Flüchtlingen sprechen, die die Kapazitäten der angrenzenden Länder zunehmend überfordert.

Der plötzliche Anstieg der Flüchtlingszahlen hängt eng mit der Dynamik des syrischen Konflikts zusammen. Im ersten Jahr der Krise hatte die Gewalt noch nicht ihr derzeitiges Ausmaß und nur einige tausend Syrer entschieden sich dazu, das Land zu verlassen. UNHCR-Berichten zufolge waren Ende 2011 in der gesamten Region lediglich 10.265 Flüchtlinge gemeldet.

Die Zahl der Flüchtlinge ist eng verknüpft mit der Dynamik des Konflikts

Die Kämpfe in Homs im Februar 2012 dann, stellten einen Wendepunkt im Konflikt dar. Zum ersten Mal setzte die syrische Armee systematisch schwere Waffen und Artillerie ein. Die Anzahl der Fliehenden nahm zu. Im Juli 2012 erklärte die UNHCR, dass die Anzahl registrierter Flüchtlinge 100.000 überschritten habe. Der zweite Wendepunkt wurde im Sommer 2012 erreicht, als die Kämpfe um Aleppo und Damaskus begannen - und mit ihnen die Luftangriffe.

Im Herbst vergangenen Jahres stieg daher die Anzahl derer, die sich auf der Flucht befinden, weiter; im Januar 2013 wurden 500.000 Flüchtlinge gezählt. Während der Konflikt immer gewaltsamer wurde, kam es zu eine Pattsituation, in der weder die Regierungs- noch die Oppositionstruppen die Oberhand gewinnen konnten. Im Juni 2013 gab die UN Schätzungen bekannt, nach denen inzwischen mehr als 90.000 Menschen im Krieg getötet wurden und die Anzahl der Binnenflüchtlinge, also der Menschen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden, 4 Millionen überstiegen habe.

Währenddessen ist die syrische Wirtschaft zusammengebrochen. Arbeitslosigkeit und Inflation sind enorm angestiegen und grundlegende Güter sind Mangelware und zudem unerschwinglich. Angesichts dieser Entwicklungen überstiegen die Flüchtlingszahlen in den vergangenen fünf Monaten alle vorherigen Schätzungen und führten zu der derzeitigen Gesamtzahl. Eine Zahl die stetig steigt: jeden Tag registriert die UNHCR im Durchschnitt 5.000 bis 10.000 Neuankömmlinge.

Täglich werden 5-10.000 weitere Flüchtlinge aus Syrien registriert

Dieser enorme Zustrom an Flüchtlingen hat alle Beteiligten unvorbereitet getroffen. In Zusammenarbeit mit Regierungen und Nichtregierungsorganisationen, haben die Vereinten Nationen schrittweise ein System humanitärer Unterstützung eingerichtet. Die Umsetzung aber geht nur langsam voran und gestaltet sich schwierig. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen nicht aus und hunderttausende Flüchtlinge sind weiterhin nicht erfasst und erhalten keinen Zugang zu den dringend benötigten Hilfsleistungen.

Am meisten betroffen von den Flüchtlingsströmen sind der Libanon, Jordanien, die Türkei, der Irak und Ägypten. Der Umgang mit den Flüchtlingen unterscheidet sich dabei von Land zu Land. Der Libanon und Ägypten haben ihre Grenzen offen gehalten und Ablehnungen oder Abschiebungen kommen nur sehr selten vor.[1] In Jordanien ließ die Regierung syrische ZivilistInnen ins Land, hat aber strenge Beschränkungen für die Einreise syrischer PalästinenserInnen aufgestellt. Viele von ihnen wurden an den Grenzen abgewiesen und waren daher dazu gezwungen, in Syrien zu bleiben. Andere sind in einem speziellen Camp in "Cybercity" untergebracht worden und dürfen sich nicht frei in Jordanien bewegen. In der Türkei hielt die Regierung die Grenzen zunächst geöffnet. Seit Herbst 2012 wurden jedoch Maßnahmen eingeleitet, um den Zustrom durch strikte Kontrollen an den Grenzpunkten zu einzuschränken. Viele Flüchtlinge wurden hier zurückgeschickt.

Die Nachbarländer haben mit der großen Zahl der Ankommenden zu kämpfen

Auf diese Weise wurde die Entstehung spontaner Lager für Vertriebene innerhalb Syriens gefördert. Diesen Camps fehlt es oft an grundlegenden Diensten und sie sind den Luftangriffen der syrischen Regierung ebenso ausgesetzt wie gewaltsamen Aktionen einiger Rebellengruppen.

Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge im Irak sind ethnische KurdenInnen, die in der autonomen Region des irakischen Teils Kurdistans, der stabilsten und sichersten Gegend des Landes, untergekommen sind. Ein Grund hierfür ist der Beschluss der Zentralregierung, die das syrische Regime unterstützt, den Grenzübergang Al Qa´ im im Oktober 2012 zu schließen. Hierdurch wurde der Zugang für Flüchtlinge zu den arabischen Teilen des Landes stark eingeschränkt.

In diesen fünf Ländern sind die Strukturen für eine Unterbringung unzureichend. Nur ein Fünftel der Syrer haben Zuflucht in Flüchtlingslagern gefunden. Das Zaatari Camp in Jordanien (mit mehr als 100.000 Menschen) und das Domiz Camp im irakischen Teil Kurdistans (mit mehr als 40.000 Menschen) werden von den lokalen Regierungen in Zusammenarbeit mit der UN und vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen verwaltet. Sie garantieren eine grundlegende Versorgung, bieten jedoch keine guten Lebensbedingungen. Sie sind überfüllt, es gibt zu wenige Gemeinschaftsküchen und Toiletten und die hygienischen Bedingungen sind besorgniserregend.

In der Türkei kam es bereits zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge

Die jordanische Regierung versprach und verschob seit Herbst 2012 mehrere Male die Errichtung eines zweiten großen Camps. Nach diversen Verzögerungen, soll es schlussendlich im Sommer 2013 eröffnet werden.

Die türkische Regierung hat auf eigene Kosten 17 kleinere Camps in den südöstlichen Regionen der Türkei errichtet. Sie erstrecken sich entlang der syrischen Grenze und beherbergen derzeit ungefähr 200.000 SyrerInnen. Der UN und den vielen Nichtregierungsorganisationen ist es nicht gestattet, in diesen Camps zu arbeiten, aber eine grundlegende Versorgung wird gewährleistet und die Lebensbedingungen sind Berichten zufolge recht gut.

Im Libanon schließlich hat die Regierung von Beginn an die Errichtung von Camps aus politischen Gründen ausgeschlossen. Die Regierung fürchtet, dass sich ein Szenario wie das der palästinensischen Flüchtlinge wiederholen könnte: Auch sie kamen in der Absicht, nur einige Monate bleiben zu müssen und waren schließlich gezwungen, dauerhaft im Land zu bleiben.

Im Libanon hat man keine Flüchtlingslager errichten lassen - mit den palästinensischen Camps hat man schlechte Erfahrungen gemacht

Angesichts dessen verteilen sich die meisten SyrerInnen auf die Städte und ländliche Gebiete. Von selbt errichteten kleineren Camps aus erhalten sie sehr begrenzten Zugang zu humanitärer Hilfe. Die UN deckt einen Teil des Bedarfs an Nahrungsmitteln über Essensgutscheine ab, wohingegen kleinere und größere Organisationen vereinzelt soziale, gesundheits- und bildungstechnische Dienste anbieten. Die Versorgung reicht jedoch nicht aus, um ganze Familien zu ernähren. Flüchtlinge suchen daher verzweifelt nach Arbeit, aber nur wenige von ihnen schaffen es tatsächlich, Arbeit zu finden. Darüber hinaus müssen sie noch ihre Unterkunft bezahlen. Wirtschaftlich gut gestellte Familien können mit ihren Ersparnissen ein Haus oder eine Wohnung mieten. Viele andere können sich das nicht leisten und sind gezwungen, unter schlechten Bedingungen, in Häusern, die sich noch im Bau befinden, Garagen, Lagerhallen und verlassenen Schulen zu leben. Die Situation im Libanon ist besonders dramatisch, da die hohen Lebenshaltungskosten und der Mangel an Wohnraum viele Menschen dazu zwingen, in Baracken und Zelten zu leben. In den ländlichen Gebieten des Landes entstanden eine Vielzahl spontanerer Camps. Sie befinden sich oft weit entfernt von Hauptstraßen und öffentlichen Diensten, es fehlt an Trinkwasser und sanitären Anlagen.

Die hohe Anzahl an Flüchtlingen ist eine große Last für die Ökonomien und Gesellschaften der Gastländer. Das gilt insbesondere im Libanon und in Jordanien, wo die Anzahl an SyrerInnen (jeweils mehr als eine halbe Million) im Vergleich zur recht geringen Bevölkerungszahl (vier bzw. sechs Millionen) sehr hoch ist.

Unter dem demographischen Druck der Flüchtlinge haben sich die Mieten verdoppelt und die Preise für Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs sind stark gestiegen. Einerseits hat die jeweilige Mittelschicht der Gastländer von der Anwesenheit der SyrerInnen profitiert. Sie nehmen hohe Mieten von ihnen, verkaufen ihnen überteuerte Produkte und zahlen ihnen geringe Löhne für Arbeiten in der Landwirtschaft und im Baugewerbe. Zusätzlich haben tausende von jungen Schul- und Universitätsabsolventen eine gute Anstellung mit einem hohen Gehalt bei den UN-Organisationen und internationalen Nichtregierungsorganisationen erhalten.

Flüchtlinge wollen vor allem eins: Arbeit, um sich versorgen zu können

Andererseits sind die armen Bevölkerungsschichten dieser Länder aufgrund der Inflation und der syrischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt in eine Notlage geraten. Diese wirtschaftlichen Faktoren haben zu einem allmählichen Spannungsanstieg zwischen der jeweiligen lokalen Bevölkerung und den Flüchtlingen geführt. So kam es vereinzelt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Beziehungen könnten sich in den kommenden Monaten weiter verschlechtern.

In einigen Ländern kommen außerdem noch politische Spannungen zu den ökonomischen Problemen hinzu. In der Türkei protestierte ein Teil der Bevölkerung – darunter viele Aleviten und Arabisch-sprechende alawitische Türken - mehrmals gegen die breite Präsenz von syrischen Flüchtlingen und die Unterstützung der türkischen Regierung für die syrische Opposition. Die sehr ernsthaften Spannungen mündeten im Mai 2013 in einem Bombenanschlag in Reyhanli, einer ländlichen Stadt nahe der syrischen Grenze.

Im Libanon haben die politischen Bewegungen entgegengesetzte Stellungen im syrischen Konflikt eingenommen: die Koalition des 8. März verteidigt die syrische Regierung, wohingegen sich die Koalition des 14. März auf die Seite der Opposition gestellt hat. Diese politische Unterstützung hat sich im Laufe der Zeit immer mehr in militärische Hilfen verwandelt. Einerseits sind Kämpfer der Hisbollah nach Syrien eingedrungen und kämpfen auf Seiten der Regierungstruppen, andererseits erleichtern die sunnitischen Fraktionen Waffenbewegungen und den Zustrom libanesischer Kämpfer Richtung Opposition. Der Libanon hat es aber trotz einer Reihe von offenen Kämpfen in Tripoli, Saida und einigen Grenzgebieten geschafft, einen gewissen Grad an Stabilität zu wahren. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich die Situation verschlechtert je länger der Konflikt in Syrien dauert. Die vorhandenen Spannungen haben auch einen Einfluss auf die syrischen Flüchtlinge. Viele von ihnen sind besorgt und leben lieber in Gebieten, in denen die Bevölkerung der gleichen Glaubensrichtung angehört.

Die Situation der Flüchtlinge verschlechtert sich zusehends

Abschließend kann daher gesagt werden, dass die Anzahl der Flüchtlinge weiter ansteigt, ihre Situation zunehmend schlechter wird und Grenzkontrollen strenger werden. Gleichzeitig geraten die Gastländer unter einen immer stärker werdenden Druck und die Gefahr einer Destabilisierung wächst, insbesondere im Libanon. SyrerInnen sind nicht mehr willkommen, wie es noch im vergangenen Jahr der Fall war. Sie kämpfen um das Überleben ihrer Familien, haben aber auch nur selten einen anderen Ort, an den sie gehen könnten.

Überfordert von den immensen Lebenskosten, nehmen einige von ihnen gar die Risiken in Kauf und gehen zurück nach Syrien, der Gefahr von Bombenangriffen und bewaffneten Zusammenstößen zum Trotz. Währenddessen sind die internationalen humanitären Mittel weiterhin unzureichend und können keine Grundversorgung aller Flüchtlinge garantieren. Im Vergleich mit den politischen und militärischen Entwicklungen innerhalb Syriens wird ihre Situation oftmals als zweitrangig angesehen. Ignoriert und von der Welt vergessen, zieht sich die humanitäre Krise der syrischen Flüchtlinge unaufhaltsam Richtung Zerreißgrenze.

 

[1] Anmerkung von Alsharq: Seit Mitte Juli brauchen SyrerInnen ein Visum nach Ägypten vor ihrer Einreise, ansonsten werden sie abgeschoben.

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