08.11.2010
100 Jahre Kibbuzbewegung: Für tot erklärt und doch noch am leben
Im Oktober 1910 wurde Degania Aleph, das erste Kibbuz, gegründet. Die sozialistische Utopie wurde im Ausland jahrzehntelang romantisch verklärt, zu einem Gründungsmythos des jungen jüdischen Staates und später zum Aushängeschild Israels. Doch davon ist heute nicht mehr viel übrig geblieben – oder doch?
 
Von Dominik Peters und Sebastian Kunze

Weißrussen. Es waren Weißrussen, zehn Männer und zwei Frauen, zionistische Juden, die 1910 in den Sumpfgebieten nahe des See Genezareths das erste Kibbuz in Osmanisch-Palästina gründeten: Degania Alpeh. Daran die „Wüste zum Blühen zu bringen“, wie es Israels Staatsgründer David Ben Gurion später als Ziel ausgab, dachten die aschkenasischen Juden – noch – nicht. Sie kämpften mit Malaria, Moskitos und Mangelernährung und waren weit weg vom Negev. Auch von Max Nordaus gefordertem Ideal des gebräunten „Muskeljuden“ waren sie weit entfernt. Aber sie hatten einen Traum, einen sozialistischen Traum. Und sie verwirklichten ihn.

Mit ihrer „Kornblume“, wie Degania auf Deutsch heißt, legten sie den Grundstein für ein proletarisch-jüdisches Palästina. Die Kibbuzniks arbeiteten in ihrer kleinen gemeinwirtschaftlich angelegten Siedlung nach dem Motto „Jeder arbeitet soviel er kann und bekommt soviel er braucht“. Nicht mehr und nicht weniger. Aber natürlich hätte diese handvoll Idealisten, die sich auf den langen Weg von den patriarchalisch geprägten osteuropäischen „Schtetln“ nach Palästina aufgemacht hatten, es nie geschafft, die zionistischen Pläne des ersten Basler Kongresses von der Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk durch die Urbarmachung und Besiedlung des späteren britischen Mandatgebietes Palästina alleine zu erreichen. Dafür bedurfte es vor allem der finanziellen Unterstützung – die verschiedenen Mitglieder der weit verzweigten Rothschildfamilie werden hier immer wieder namentlich genannt. Aber es waren nicht nur Einzelpersonen, die die Chalutzim (zu Deutsch: „Pioniere“) unterstützten, sondern auch – später – Organisationen wie der Jüdische Nationalfond (Keren Kajemet L`Yisrael), der Keren Ha-Yesod („Grundfond“) oder die PICA (Palestine Jewish Colonization Association).
Mit der finanziellen Unterstzützung im Rücken verbreitete sich das Konzept der „Mutter aller Kibbuzim“ Degania Aleph rasch – zu Lasten der arabischen Bevölkerung. Denn das Land war zwar dünn besiedelt, aber „keine menschenleere Wüste“. So gibt es beispielsweise Statistiken über die Bevölkerungszusammensetzung in Osmanisch-Palästina fünf Jahre vor der Gründung Degania Alephs, die besagen, dass dort im Jahr 1905 ca. 722.000 Menschen lebten, davon 83% Muslime, 11,2% Christen und rund 5% Juden. Im Siedlungsgebiet der Kibbuzim lebten also hauptsächlich arabische Bürger des Osmanischen Reiches. Die arabischen Felachen bekamen aber meist gar nichts mit von der Landnahme, bis es soweit war, denn sie waren nicht die Besitzer der Äcker, die sie bearbeiteten. Diese gehörten Großgrundbesitzer, sogenannten „absentee landlords“. Vor dem Hintergrund dieser Existenzvernichtung kam es immer wieder zu gewalttätigen Konflikten. Zu systematischen Vertreibungen kam es in dieser Phase jedoch nicht. Der sogenannte „Transfergedanke“ – der schon bei Theodor Herzl, dem „Gründungsvater“ des modernen politischen Zionismus angelegt war – wurde erst später, ab 1937 öffentlich diskutiert. Gleichwohl ist es wichtig anzumerken, dass die Vertreibungen im Jahr 1948 keine direkte Folge dieses Denkens waren[1].
Vom Leid ihrer neuen Nachbarn wollten die osteuropäischen Einwanderer, die vor den Pogromen ihrer christlichen Nachbarn in der Diaspora geflohen waren, indes nicht viel wissen. Die Kibbuzbewegung war vielmehr daran interessiert die eigenen Interessen zu verfolgen – und sich dem Ideal des „neuen Juden“ mehr und mehr zu nähern. Eine herausragende Persönlichkeit, die die Kibbuzbewegung nachhaltig geprägt hat – und kaum bekannt ist – war Aharon David Gordon. Der russischstämmige Mann wanderte 1904 im Alter von 47 Jahren nach Palästina aus, arbeitete erst in den Weinbergen von Rischon LeZion (zu Deutsch: „die ersten Zions“) und Petach Tikva (zu Deutsch: „das Tor der Hoffnung“) und lebte später in Degania Aleph. Er war von Tolstoi geprägt und führte dessen Ideen fort und verband sie mit den jüdischen Traditionen. Seine Utopie war religiös determiniert, aber säkular ausgerichtet. Er war nicht nur ein Denker, sondern lebte seine Ideen und Ideale auch vor. Er verband somit Theorie und Praxis auf eine einzigartige Weise.
Für Gordon war der Mensch durch das Stadtleben und allgemeiner durch die bourgeoise Kultur entfremdet. Von sich selbst entfremdet. Nur wenn sich das Individuum selbst verwirkliche, könne das Volk Erlösung finden, meinte er. Die Selbstverwirklichung aber, davon war er überzeugt, sei nur durch körperliche Landarbeit möglich. Durch die Bearbeitung des Bodens, so dachte er, verbände sich das Volk mit dem Land und gewönne wieder seine Kultur. Getreu seiner Vorstellung machte sich der alternde Mann daran, körperlich hart zu arbeiten und wurde so zu einem Mythos der Kibbuzbewegung.

Aschkenasische Pioniere und misrachische Arbeiter

Der Bewegung, deren Siedlungen in den Jahren vor der Staatsgründung auch als Waffenlager und sogenannte Wehrdörfer dienten. Der Bewegung, die Waffen für die Haganah (zu Deutsch: „Verteidigung“) versteckte und von einiger Bedeutung beim Krieg von 1948 gewesen war[2]. Der Bewegung, die so berühmte Persönlichkeiten wie Ariel Scharon und Amos Oz, Mosche Dayan und Ehud Barak hervorbrachte und bis vor wenigen Jahren den Mythos pflegte, Neueinwanderern nach der Staatsgründung Israels bei der Integration geholfen zu haben. Was nur zur Hälfte stimmt. Aschkenasische, also europäische, Juden fanden in den Gemeinschaftssiedlungen ihr neues Zuhause in „Eretz Israel“, ja, das stimmt, aber misrachische Juden, also solche aus arabischen Ländern, durchliefen in den sozialistischen Utopiesiedlungen ein wahres Martyrium. Sie waren zum Teil Bürger zweiter Klasse, ausgerechnet an jenen Orten, wo doch alle gleich sein sollten.
Die israelischen Historiker Gerschon Schafir und Yoav Peled beschreiben das Nicht-Verhältnis der aschkenasischen Pioniere und den jemenitischen Einwanderern in den 1950er Jahren wie folgt: „Idealistische Arbeiter, das war das Wesen der [aschkenasischen] Pioniere, die der Nation den Weg bereiteten und ihr moralische Maßsstäbe setzten. Natürliche [misrachische] Arbeiter hingegen sollten die Fußsoldaten des zionistischen Feldzuges sein und dem ‚qualitativen’ Einsatz der Pioniere die ‚Quantität’ hinzufügen.“[3] Doch nicht nur, dass die jemenitischen – und anderen arabischen – Juden wie Arbeitstiere schuften mussten ist heute bekannt, sondern auch, dass sie selbst – was oft verschwiegen wird – Anteil an der jüdischen Pinierarbeit hatten. 

So besiedelten beispielsweise 1912 eine Gruppe jeminitischer Juden unter der Führung ihres Rabbiners einen Landstrich nahe des See Genezareths, legten die Sümpfe trocken und bebauten das Land. Als aber 1921 europäische Juden an diesen Ort kamen und dort das Kibbuz „Kinnereth“ errichteten, also genau dort, wo die Pionierarbeit bereits getan war, verloren die jemenitischen Einwanderer nach einer sechsjährigen Kampagne von einigen wenigen Kibbuzniks ihr Land. „Zermürbt und malariakrank“, so schreibt es der israelische Historiker Yehudah Nini, der 1996 das erste Buch über diese Geschehnisse veröffentlichte, „räumten die Jemeniten das Feld; sie wurden in einen Stadtteil von Rehovot in Zentralisrael umgesiedelt, in dem die Straßen nach Orten in Galiläa benannt sind, einem Land, das sie achtzehn Jahre lang bestellt hatten.“[4]

Von Visionären zu "Aristokraten"

Diese Geschehnisse sind in der kollektiven Erinnerung der europäisch-geprägten Kibbuzbewegung nicht erhalten – und bis heute werden sie größtenteils abgelehnt. Die Chalutzim pflegten in all den Jahren nach der Staatsgründung ihr Image als selbstlose Visionäre und erhielten dadurch eine exponierte Stellung in der neuen israelischen Gesellschaft[5]. Aus den verschiedenen Kibbuz-Organisationen gingen Parteien hervor und vergleichsweise viele Knessetabgeordete. In den ersten 25 Jahren des Staates Israel regierte die Arbeitspartei, die den Kibbutzim wohl gesonnen war und sie mit großzügigen Subventionen bedachte. Besonders in dieser Epoche nahmen die Kibbutznikim einen großen Anteil an den Elitepositionen im Land ein; auch im Militär. Sie dienten in Eliteeinheiten und wurden Offiziere und so schafften es die – vergleichsweise – wenigen Kibbuzim beispielsweise 1988 30% der  ausgebildeten Kampfpiloten zu stellen.


Im laufe der Zeit wandelten sich allerdings die Umstände. Die Idee des Kibbuz ging seinem Ende entgegen. Besonders in den 90er Jahren wurden die sozialistischen Siedlungen für Neueinwanderer, vor allem für diejenigen aus den ehemaligen GUS-Staaten, immer unattraktiver. Auch das öffentliche Bild der Kibbuzim wandelte sich. Man sah sie als „aristokratisch“, selbstgerecht und abgehoben. Dafür gab es unterschiedliche Ursachen: Zum einen waren die zweite und dritte Generation der Kibbuznikim keine stark ideologisch geprägten „Pioniere“ wie ihre Eltern, oder Großeltern. Die starke Bindung an den Kibbuz und die verbundenen Parteien lockerte sich auf. Zum anderen kann 1977 als Zäsur gesehen werden. In diesem Jahr gewann der rechtsgerichtete Likud-Block die Parlamentswahlen in Israel. Nachdem die Arbeitspartei nicht mehr die schützende Hand über die Kibbuzim legen konnte, wurden die Subventionen gestrichen oder von ihnen Siedlungen in den besetzten Gebieten gebaut. Zur Verdeutlichung: Vor der Wahl 1977 gab es 31 Knessetabgeordnete aus Kibbuzim und Moshavim (Knesset insgesamt 120). 1988 nur noch 13 und 1992 nur noch 2 Abgeordnete.[6] Hieran kann der Bedeutungsverlust, den die Kibbuzbewegung mit den Jahre nach 1977 erlitt, abgelesen werden.
Hinzu dürfte wohl auch die wirtschaftliche Krise in den 80er Jahren kommen, in der die Inflationsrate bei über 400% lag. Ein gesellschaftlicher Wertewandel, von einer Mangelgemeinschaft mit starker Kollektividentität hin zu einem neuen Familienideal, Individualismus und materiellen Ansprüchen, brachte das Übrige. Die Gesamtverschuldung aller Kibbutzim lag noch 1996 ungefähr bei 5 Mrd. $. Trotz einem staatlichen Hilfsprogramm, das bis 2013 abgeschlossen sein soll, waren die Kibbuzim gezwungen umzudenken, wenn sie ihre Idee nicht eigenhändig zu Grabe tragen wollten. Die Not machte sie erfinderisch – und die landwirtschaftlichen Siedlungen wurden kapitalistisch.

Degania Aleph wurde privatisiert und man hat sich dort auf die Herstellung von Diamantenwerkzeugen spezialisiert, im benachbarten Degania Beth gibt es eine Schokoldanfabrik. Überall im Land sieht es ähnlich aus: In Hagoshrim produziert man seit den achtziger Jahren weltbekannte Damenrasiergeräte, im Kibbuz Yagur gibt es ein riesiges Discoareal und die Gemeinschaftssiedlungen im Hule-Tal verkaufen für viel Geld ihre kleinen Hütten an finanzkräftige Touristen, die in der einzigartigen Naturlandschaft zur Ruhe kommen wollen.

Zurück in die Zukunft

All diese beispielhaften Privatisierungen führten zur Umstrukturierung der Kibbuzbewegung. Heute gibt es in Israel noch 273 Kibbuzim, davon sind 16 religiös geprägt. Ihr Motto, eine ideologische Ausprägung, die in den 1930ern Jahre geboren wurde, lautet „Tora we-Avodah“, Torastudium und Arbeit. Die Bewegung als Ganzes ist auf 120.000 Mitglieder geschrumpft. 70 Prozent aller Einkünfte stammen aus Industrie, Handel und Dienstleistung, 15 Prozent aus dem Tourismus. Und den typischen Kibbuz-Speisesaal oder eine Wäscherei gibt es zwar immer noch, aber nur gegen Bezahlung. Die Gemeinschaftskasse ist – wie im größten Kibbuz Givat Brenner – dem eigenen Bankkonto und einem leistungsgerechten Einkommen gewichen.
Doch durch diesen Transformationsprozess entstanden auch neue „Arten“ von Kibbutzim. Es bildeten sich nun drei große Gruppen heraus. Die Kibbuzim Shitufiim (gemeinschaftliche Kibbuzim), die Kibbuzim Mitchadschim (erneuerte Kibbuzim) und die Stadtkibbuzim.
  • Die Gruppe der „Kibbuz Shitufi“ hat den Besitz an Produktionsmitteln nicht privatisiert. Innerhalb der Kibbuz Shitufi unterscheidet man drei weitere Gruppen: Eine Gruppe hat keine Änderungen vorgenommen. Die zweite Gruppe hat eine effiziente Verwaltung eingeführt und strebt eine Produktivitätssteigerung an. Die letzte Gruppe vergrößerte ihre Kibbuzim.
  • Die sich unter dem Namen „Kibbuz Mitchadesch“ zusammengefundenen Kibbuzim führten tiefgreifende Veränderungen durch. Sie führten eine differenzierte Entlohnung ein und privatisierten die Wohnungen, außerdem gab es noch eine Teilprivatisierung der Produktionsmittel.
Die „Stadtkibbuzim“ bilden drittens eine neue Art von Kibbuz. Sie verfolgen zwei Ziele: Zum einen den Aufbau einer Gemeinschaft von Individuen und zum anderen wollen sie sich für die israelische Gesellschaft engagieren. Sie haben sich bewusst in der Nähe oder inmitten von Entwicklungsstädten angesiedelt und sehen sich als soziales Projekt, dabei konzentrieren sie sich auf Bildung und klassische Sozialarbeit. Mit diesem neuen Ansatz transformierten sie den nationalen Dienst der Kibbuzim (Aufbau des Landes und Urbarmachung) in einen neuen, für sie zeitgemäßen nationalen Dienst an der israelischen Gesellschaft. 
Organisatorisch knüpfen die Stadtkibbuzim an die frühen Kibbuzideen an und etablierten eine freie, auf Basisdemokratie gegründete Gemeinschaft. Im Gegensatz zu klassischen Kibbuzim sind sie aber keine Produktionsgemeinschaften mehr, sondern lediglich Konsumptionsgemeinschaften. Im Mittelpunkt steht das Individuum und seine Verantwortung für den Kibbuz. Dieser innovative Schritt zum Stadtkibbuz resultiert aus einer Rückbesinnung auf die Anfänge der Kibbuzbewegung bei der es, ganz am Anfang, auch um das Individuum ging.

Nach zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher Umstrukturierung und ideologischer Neuorientierung, konnte die Kibbuzbewegung, mit der Angst vor Überalterung konfrontiert, in den letzten Jahren – durch die beschriebenen Reformen – nun sogar wieder einen Zuwachs in Höhe von 2.500 neuen Kibbuzniks verzeichnen. Vor allem junge Paare, Studenten und Bildungsbürger kehren zurück.

Der zweite Frühling der 100-jährigen Bewegung hat begonnen und auch die verbliebenen Kibbuznikim in der „Kornblume“ haben ihr Ziel erreicht: Sie sind wieder schuldenfrei – so wie die meisten Kibbuzim.
 

[1]     Vgl.: Morris, Benni: Anmerkungen zur zionistischen Geschichtsschreibung und dem Transfergedanken in den Jahren 1937-1944. In: Schäfer, Barbara (Hrsg.): Historikerstreit in Israel. Frankfurt/ Main, 2000
[2]     Vgl.: Hameiri, Ilan: Pioniere der Neuansiedlung. In: Lichtenstein, Heiner und Romberg R. Otto (Hrsg.): Fünfzig Jahre Israel: Vision und Wirklichkeit. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998
[3]     Vgl.: Shabi, Rachel: Wir sehen aus wie der Feind.Arabische Juden in Israel. Berlin. 2008
[4]     Vgl.: ebd.

[5]     Vgl.:  Eisenstadt, Shlomo N.: die Transformation der israelischen Gesellschaft. Frankfurt am Main. 1987

[6]    Vgl. Wolffsohn, Michael und Bokovoy, Douglas: Israel. Opladen. 2003

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