Im Rahmen des Seminars "Islamistische Bewegungen im Nahen Osten", das Alsharq-Autor Maximilian Felsch an der Universität Münster leitet, erscheinen bis April 2010 in unregelmäßigen Abständen Beiträge von Kursteilnehmern. Lesen Sie heute einen Bericht von Tobias Franz über interne Machtkämpfe bei den ägyptischen Muslimbrüdern.
Für Schlagzeilen ist Mohammed Mahdi Akef, oberster Führer der Muslimbruderschaft und damit der stärksten politischen Opposition in Ägypten, bekannt. Dazu gehören kontroverse Aussagen wie z.B. seine Kritik am mangelnden öffentlichen Interesse für die 320 oft ohne Gerichtsverfahren inhaftierten Muslimbrüder oder durch seine im März dieses Jahres getroffene Entscheidung, sein Amt im Januar niederzulegen und nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Doch was sich zurzeit innerhalb der Muslimbruderschaft abspielt, stellt all das in den Schatten, womit sie bisher auf sich aufmerksam machte. Die Muslimbrüder sind in der schwersten Krise seit ihrer Gründung im Jahr 1928.
Akef selbst bestreitet, dass die Organisation in einer Krise steckt. Aber schon seine Rücktrittserklärung im Frühjahr ist ein Indiz für die Zerstrittenheit innerhalb der Organisation. Er begründet seine Entscheidung damit, dass er sich einem demokratischen Rotierungsprozess an der Spitze der Bruderschaft nicht in den Weg stellen will, um somit einen Gegensatz zur regierenden NDP aufzuzeigen, bei der der Nachfolger für das Amt des Staatsoberhauptes mit dem Sohn des derzeitigen Präsidenten längst festzustehen scheint. Diese Erklärung erscheint jedoch nicht ausreichend: Es ist vielmehr Akefs Unzufriedenheit mit dem erzkonservativen Führungsrat und dessen Entscheidungen, die oft auch über seinen Kopf hinweg gefällt worden sind, die für Kontroverse sorgt.
Nachdem im September mit Mohamed Hilal ein hoher Rat der Muslimbrüder gestorben war, schlug Akef den Leiter des Politbüros, Essam El-Erian, der allgemein als Reformer bekannt ist, als Nachfolger vor. Der Führungsrat jedoch verweigerte die Ernennung Erians als Nachfolger Hilals. Daraufhin verließ der „Supreme Guide“ Akef, unter Androhung des sofortigen Rücktritts, wütend das Treffen und übertrug seinem Stellvertreter Mohamed Habib viele seiner Vollmachten, was in der ägyptischen Öffentlichkeit zu heftigen Spekulationen über Akef und die Muslimbruderschaft führte. Obwohl Akef kurz darauf in einem Interview mit Al-Ahram Weekly jegliche Mutmaßungen über seine Person zurückwies, beschreibt dieser öffentlich gewordene Vorfall den Höhepunkt jahrelanger Macht- und Richtungskämpfe innerhalb der Organisation. Die Ablehnung Essam El-Erians durch den Führungsrat ist eine klare Missachtung der Rolle Akefs, jedoch geht die Krise, in der sich die Muslimbruderschaft befindet, weit über die Ernennung El-Erians hinaus.
Ein wesentliches Problem der Muslimbruderschaft ist ihre Struktur. Die Organisation ist mit ihrem weit reichenden zivilgesellschaftlichen und sozialen Engagement erheblich größer als eine politische Partei, allerdings ist sie vom Staat verboten. Somit agiert sie vielmehr als eine ideologische Schirmorganisation für unzählige und unterschiedlichste islamistische Strömungen. Dieser Schirm muss die erzkonservativen Fundamentalisten, die moderaten Liberalen und das dazwischenliegende Spektrum umspannen, um schließlich allen ein gemeinsames Ziel zu setzen: den schrittweisen Wandel der ägyptischen Gesellschaft.
Trotz dieser vielschichtigen Organisationsstruktur kann man zwei verschiedene Richtungen innerhalb der Muslimbruderschaft unterscheiden. Die erste, geprägt von Studenten und Reformern, strebt Engagement und Mitbestimmung im politischen System Ägyptens an. Sie hegt die Bestrebung, eine Partei zu werden und sucht damit die Öffnung der Muslimbruderschaft hin zu demokratischen und in der Öffentlichkeit mehrheitlich akzeptierten Normen. Abdel-Moneim Abul-Fatouh, der im Juni ohne Gerichtsverfahren inhaftiert worden war und vergangenen Mittwoch freigelassen wurde, ist ihr bekanntester Vertreter unter den ältesten Führern.
Der zweite Flügel ist der konservative, der vor allem die strukturellen und organisatorischen Arbeitsvorgänge leistet und bestimmt und somit unter anderem für die Rekrutierung und Zulassung neuer Mitglieder, die hierarchischen Beziehungen sowie die Implementierung, Veröffentlichung und Umsetzung der ideologischen Programme und Lehre zuständig ist. Zudem ist diese Strömung für die im Jahr 2007 beschlossenen Verbote der politischen Beteiligung von Frauen und Kopten verantwortlich. Darüber hinaus strebt sie ein enges Verhältnis mit der aus der Muslimbruderschaft hervorgegangenen radikal-islamistischen Hamas an. Ihr Frontmann ist der einflussreiche Generalsekretär Mahmout Ezzat.
Bisher war es immer Aufgabe des obersten Führers, die Ränder der Muslimbruderschaft trotz der sehr unterschiedlichen Ansichten zusammenzuhalten. Dies war noch nie eine leicht zu erfüllende Aufgabe, da die Ströme ein sehr divigierendes Bild von den Aktivitäten und der Zielausrichtung der Muslimbruderschaft als Ganzes haben. Besonders Akef verkörperte das Bestreben, den inneren Zusammenhalt zwischen den zwei Richtungen zu bewahren. Akef repräsentierte darüber hinaus noch eine Annäherung der beiden Tendenzen.
Verschiedene Entwicklungen, einige davon auch durch Akef selbst verursacht, haben jedoch die Möglichkeit einer gemeinsamen Zusammenarbeit der beiden Gruppierungen verringert. Unter der Führung Akefs gab es grundlegende Richtungsänderungen, die besonders von den Traditionsverbundenen innerhalb der Muslimbruderschaft nicht mitgetragen wurden. Er wollte von einer Politik der Vieldeutigkeit, der Hartnäckigkeit und der Starrheit, so wie sie von den Fundamentalisten gefordert wird, hin zu einer stärkeren politischen Beteiligung, die geprägt sein sollte von Pragmatismus und Flexibilität. Dieser angestrebte Wandel deckte den internen Gegensatz auf, der jetzt in allen ägyptischen öffentlichen Medien zu verfolgen ist.
Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2004 hat Akef versucht, sich mit den konservativen Kräften auseinanderzusetzen und sie zu zügeln. Aber ungeachtet aller Versuche dies zu tun, inklusive der Androhung seines Rücktritts, konnten sich die alten Garden als stärkste Kraft innerhalb der Bruderschaft behaupten. Akef scheiterte bisher entweder an der schwachen Stellung der Reformer und Pragmatiker im Vergleich zu den Konservativen oder an seinen eigenen Bedenken, die Muslimbrüder könnten sich zu sehr spalten und sich dadurch angreifbar und verletzlich machen – insbesondere gegenüber den Sicherheitsstrategien des autokratischen Regimes.
Nach den internen Ratswahlen im Jahr 2008 konnten die konservativen Kräfte sogar an Macht im Führungsrat gewinnen, und so war es Akef, der durch die Nominierung El-Erians versuchte, deren Einfluss zu mindern und den Hardlinern etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Jedoch mussten der oberste Führer sowie die moderaten Kräfte in der Muslimbruderschaft auch schon vor der Ablehnung Erians als Vertreter Akefs herbe Rückschläge verkraften. Beispiele dafür sind die Verhaftung von Khairat El-Shater, dem zweiten Stellvertreter des obersten Führers, der im Jahr 2007 vor ein Militärgericht gestellt wurde und die Verhaftung ohne Gerichtsverfahren des ideologischen Führers der Reformer, Abdel-Moneim Abul-Fatouh im Juni dieses Jahres. Somit konnte die konservative Führungselite während der Zeit der Inhaftierungen ihre Machtrolle voll ausspielen ohne erhebliche Kritik aus den eigenen Reihen zu fürchten. In Anbetracht dieser Tatsachen könnte man die Gründe der Zerstrittenheit der Muslimbruderschaft um einen zusätzlichen Argumentationspunkt erweitern und dahingehend betrachten, dass es die ägyptische Regierung ist, die die Form, in der sich die Muslimbruderschaft zurzeit befindet, diktiert. Die Politik der Repression und Verhaftungen macht es der Muslimbruderschaft sehr schwer, einen moderateren Kurs einzuschlagen, da diese offensichtlich die Konservativen in der Gruppe stärkt.
Die Aufwertung der reaktionären Konservativen innerhalb der Muslimbruderschaft ist nicht mehr abzustreiten. Zu groß ist der Einfluss im Führungsrat und in der Shura, dem obersten Gremium der Organisation. Die Nachfolge Akefs scheinen Mahmout Ezzat und Mohamed Habib, zwei Konservative, unter sich auszumachen.
Es wird interessant sein zu beobachten, wer in der Lage ist, sich in den nächsten Wochen als Nachfolger Akefs zu profilieren oder ob Akef, wie vergangenen Mittwoch in einem Zeitungsinterview erwähnt, doch an der Spitze der Muslimbruderschaft bleiben wird.
Die derzeitige schwere Krise sollte aber trotzdem keinen Anlass geben zu glauben, dass sie die organisatorische Einheit der Muslimbruderschaft zerstören könnte. Es wird jedoch für den potentiellen Nachfolger Akefs oder aber für ihn selbst sehr schwer sein, die Brücke über die tiefe Kluft, die der Streit zwischen den Islamisten freigesetzt hat, neu zu schlagen, wiederaufzubauen und möglichst langfristig zu stabilisieren. Denn auch wenn es die Führungskräfte der Muslimbruderschaft schaffen sollten, die Wogen in der Krise zu glätten, werden ihre Nachwirkungen weiterhin spürbar bleiben und die für die aktuelle Situation verantwortlichen Probleme immer wieder hervortreten.