04.03.2024
Gemeinsam performen: Der sudanesische King of Jazz in Kairo
Jamsession der sudanesischen Musiker:innen im Al-Arabi Studio in Kairo, September 2023. Foto: Amira Ahmed
Jamsession der sudanesischen Musiker:innen im Al-Arabi Studio in Kairo, September 2023. Foto: Amira Ahmed

Wegen des Krieges sind Millionen Sudanes:innen aus dem Land geflohen – darunter auch der 88-jährige sudanesische König des Jazz, Sharhabeel Ahmed. In Kairo lebte er zurückgezogen, bis ihn Kolleg:innen in ihre Runde holten.  

Am 15. April 2023 brach im Sudan ein Krieg zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) aus – ein Krieg, der bisher mehr als 5.000 Menschen das Leben gekostet und etwa 6,9 Millionen Sudanes:innen zur Flucht gezwungen hat. 

Die Brutalität des Krieges hat auch eine Reihe von Künstler:innen das Leben gekostet: Der bekannte Geiger Khaled Sanhouri ist in seinem Haus in der Stadt Mulazemin nahe der sudanesischen Hauptstadt Khartum verhungert und verdurstet. Die berühmte Sängerin und Friedensaktivistin Shaden Hussein, die vor allem für ihre Lieder aus dem kordofanischen Erbe bekannt ist, kam vermutlich durch einen Luftangriff auf ihr Haus in Khartums Zwillingsstadt Omdurman ums Leben. Diese Vorfälle und die sich verschlechternde humanitäre und sicherheitspolitische Lage im Land veranlassten eine große Gruppe von Künstler:innen, den Sudan zu verlassen. Sie sind nicht die Einzigen: Seit dem Ausbruch des Krieges sind etwa 378.000 Menschen aus dem Sudan nach Ägypten geflohen, die meisten von ihnen in die ägyptische Hauptstadt Kairo.

Die Überwindung der Isolation mit einem gemeinsamen Auftritt in Kairo

Es war in einer der lauen Septembernächte in Kairo im Jahr 2023; das Tonstudio Al-Arabi im wohlsituierten Viertel Dokki war voller Musikinstrumente, Musiker:innen und Künstler:innen. Sie saßen zusammen, unterhielten sich leise, bis der sudanesische King of Jazz, der berühmte Sharhabeel Ahmed, 88 Jahre alt, das Studio betrat. In Begleitung seiner Frau Zakia Abu Al-Qasim nahm Sharhabeel Platz und lauschte den Liedern, die andere populäre sudanesische Künstler:innen im Wettbewerb vortrugen. Zu ihnen gehörte die Sängerin Hadyia Talsem von der sehr erfolgreichen Frauenband Al-Ballabel. Und Omar Ihsas, der weltweit für seine Folkloremusik aus den Regionen Darfur im Südwesten und Kordofan im Süden des Sudan bekannt ist.

 

Dieser Auftritt im Studio Al-Arabi war die Initiative einer Gruppe sudanesischer Künstler:innen und Musiker:innen, die zuvor die Sudanesische Künstlervereinigung in Ägypten gegründet hatten – eine von vielen Initiativen, die von sudanesischen Geflüchteten in Ägypten gegründet und geleitet werden. Die Mitglieder mussten für ihre Gruppe einen langwierigen Registrierungsprozess durchlaufen, nachdem dieser aber geschafft war, verloren sie keine Zeit und setzten ihren Plan um: den einzigartigen und geliebten Künstler Sharhabeel Ahmed aus seiner Isolation zurück auf die Bühne zu holen, um seine und ihre eigene Verzweiflung zu besiegen.

Ihr Plan ging auf: Als Sharhabeel im Tonstudio Al-Arabi ankam, standen alle auf, um ihn, einen der bedeutendsten Musiker der sudanesischen Musikgeschichte zu begrüßen und willkommen zu heißen. Einige Augenblicke lang explodierte der Raum förmlich vor Beifall und Pfiffen der Bewunderung. An diesem Tag beendete Sharhabeel seine viermonatige Isolation. Vier Monate, die er deprimiert in seinem provisorischen Zuhause in Kairo verbracht hatte, wohin er sich mit seiner Familie eingerichtet hatte, nachdem er dem Krieg im Sudan entkommen war.

Vor ihrer Flucht nach Kairo lebten Sharhabeel und seine Familie im Viertel Riyadh in Khartum. Kurz nach Beginn des Krieges im April 2023 weitete die RSF ihre Kontrolle über das Viertel aus und verwandelte das Haus in eine Zone für militärische Operationen. Sie errichteten Militärbasen und Kontrollpunkte an allen Hauptstraßen von Riyadh. Dies war Teil ihrer Strategie, vom Boden aus gewaltsam gegen die bombardierenden Flugzeige der SAF vorzugehen. Diese Militäroperationen führten zu einem völligen Zusammenbruch der Wasser-, Strom- und Kommunikationsversorgung in Khartum und zwangen Sharhabeel und seine Familie, ihre Heimat zu verlassen und nach Ägypten zu fliehen.

Der sudanesische König des Jazz: Ein vielseitiger Künstler

Sharhabeel Ahmed ist ein vielseitiger Künstler, der singt, komponiert und Gitarre, Oud (ein Musikinstrument aus Westasien und Nordafrika, das zur Familie der Laute gehört) und Geige spielt. Er ist auch für seine Gemälde, Gedichte und Comic-Geschichten für Kinder bekannt. Vor allem aber wird er für seine bedeutende Rolle bei der Einführung des Jazz im Sudan geschätzt, was ihm den Titel King of Jazz einbrachte.

Der 1935 im Stadtteil Abbasiya in Omdurman geborene Sharhabeel gehört zur goldenen Ära der modernen sudanesischen Volksmusiker:innen, die ihr Orchester durch den Einsatz moderner Musikinstrumente erweiterten. Sein musikalisches Talent zeigte sich bereits in seiner Kindheit. In der Schule zeichnete er sich durch das Auswendiglernen und Vortragen von Gedichten, der so genannten Madeeh aus. Dieser Begriff bezeichnet das Rezitieren von Gedichten in der Gesangstradition der islamischen Poesie, in denen der Vortragende den Propheten Muhammad preist.

Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte Sharhabeel 1956 als Oud-Spieler im Khartoum South Cinema Theatre. Im selben Jahr nahm er Lieder für das sudanesische Radio in Omdurman auf. Nach vielen Versuchen gabe das Textkomitee, das für die Genehmigung neuer Werke für den sudanesischen Rundfunk zuständig war, grünes Licht für seine Arbeit. Dies war ein großer Erfolg: Sharhabeels Lieder wurden nun in der Sendung „New Voices Corner“ ausgestrahlt, die vom Nationalen Radio – dem damals einzigen Radiosender des Landes – moderiert wurde und in vielen sudanesischen Haushalten gehört wurde.
 

Drei Jahre später wurde Sharhabeel offiziell als Musiker anerkannt und dem öffentlichen Publikum vorgestellt. Er nahm an der Eröffnungsfeier des sudanesischen Nationaltheaters in Omdurman teil und sang das von Dhu al-Nun Bushr geschriebene Lied Ya helwat al-einain (Deutsch: Oh, schöne Augen). Sharhabeel nahm auch an der ersten künstlerischen Mission des sudanesischen Rundfunks teil und reiste in den 1950er-Jahren als Geigenspieler in die sudanesische Stadt Wad Madani. Sein Auftritt dort war das erste Konzert, das jemals live im Radio von außerhalb der Studios in Omdurman übertragen wurde.

Seine Musik wurde von den Hageeba-Schallplatten seines Vaters beeinflusst

Später gründete Sharhabeel seine eigene Band und benannte sie nach sich selbst: Sharhabeel Ahmed. Die Band bestand aus einer Reihe von Musiker:innen, darunter seine Frau Zakia Abu Al-Qasim, die Gitarre spielte und die erste sudanesische Frau war, die in einer professionellen Band spielte. Später gehörten der Band auch einige seiner Kinder an, woraufhin der Name in Family Band geändert wurde. Mit dieser Band gab Sharhabeel weiterhin Konzerte im Sudan und im Ausland, unter anderem in Uganda, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Somalia, Kenia, Tunesien, Kuwait, Libyen, Ägypten, England, Deutschland und Algerien.

Portrait of the Sudanese King of Jazz: Sharhabeel Ahmed. September 2023 in Kairo. Foto: Amira Ahmed

Sharhabeels Vater spielte eine große Rolle bei seiner musikalischen Erziehung. Er besaß einen Plattenspieler und Schallplatten mit sudanesischen Hageeba[1] (dt.: Aktenkoffer)-Liedern, einer Kombination aus traditionellen sudanesischen Instrumenten, der arabischen Oud und militärischer Marschmusik mit Blechblasinstrumenten. Diese Kombination von Stilen ist auch heute noch in Sharhabeel Ahmeds Musik zu hören. Er kombiniert Blechblasinstrumente – wie Saxophon, Trompete, Posaune und andere – Bassgitarre, Gitarre oder Orgel – mit verschiedenen sudanesischen Rhythmen, ohne von der melodischen Linie der zeitgenössischen Hageeba-Musik abzuweichen.

Auch Filmmusik beeinflusste Sharhabeels Stil: Heitere und charmante Melodien in Verbindung mit kurzen musikalischen Phrasen kennzeichnen sein Werk. Ein weiteres wiederkehrendes Merkmal in Sharhabeels Musik ist die Verwendung des sudanesischen arabischen Dialekts in seinen lyrischen Texten. Später in seiner Karriere sang er auch Lieder in Fremdsprachen, darunter Englisch, Swahili und neuerdings auch Französisch. Seine Musik und sein Vortragsstil waren neu in der sudanesischen Musiktradition, die hauptsächlich auf der pentatonischen Tonleiter und den Rhythmen des sudanesischen Tum Tum basierte, einem spezifischen Stil des rhythmischen Chorgesangs mit romantischen Texten über die Schwierigkeiten im Leben der Frauen. Die Kritiker:innen betrachteten sein Werk als eine neue Phase in der sudanesischen Musikgeschichte und bezeichneten es als „sudanesischen Jazz“. Und Sharhabeel wurde zu seinem König.

Musik als kreativer Beitrag zum Frieden im Sudan

In Kairo litt Sharhabeel Ahmed unter tiefer Trauer über die Situation in seine Heimat. Die Bemühungen seiner Fans, Freund:innen und Kolleg:innen, seine Isolation durch Musik zu beenden, waren ihre Art, sich dem Krieg entgegenzustellen. Solche Initiativen spiegeln den sudanesischen Kampfgeist wider, einen Kampfgeist, den auch lange Jahre der Diktatur und der Kriege nicht besiegen konnten.

Kollektive Aktionen von Sudanes:innen, wie zum Beispiel die Gründung der Sudanesischen Künstlervereinigung in Ägypten, sind der Silberstreif am Horizont in der gegenwärtig eher düsteren Situation. Die sudanesischen Künstler:innen in der Diaspora senden damit eine Botschaft an alle Sudanes:innen, die sich gegen den verheerenden Krieg in ihrem Land wehren. Ihre Lieder stehen für Hoffnung und Leben. Musik ist ihr Zeichen gegen den Krieg und ihr kreativer Beitrag für den Frieden im Sudan – ihr Weg, einander zu helfen, die Sorgen zu bewältigen.

 


[1] Der Ursprung und die Entwicklung der sudanesischen Populärmusik lassen sich weitgehend auf die Hageeba-Musik zurückführen. Der Name Hageeba wurde erst viel später auf populäre Lieder aus den 1920er-Jahren angewandt, als der Radiomoderator Ahmed Mohamed Saleh über alte Schallplatten sprach, die er in seiner Aktentasche für seine Sendung „Hageebat al-Fann“ (Deutsch: Aktentasche der Kunst) gesammelt hatte, die er in den 1940er-Jahren auf Radio Omdurman präsentierte.
 

 

Artikel von Amira Ahmed
Redigiert von Eva Hochreuther, Clara Taxis
Übersetzt von Charlotte Hahn