14.02.2024
Flucht aus Gaza – aber wie?
Zerstörung in Gaza Ende 2023, Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138775621.
Zerstörung in Gaza Ende 2023, Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138775621.

Menschen ohne ausländischen Pass müssen für die Ausreise aus Gaza bis zu 10.000 US-Dollar zahlen. Crowdfunding ist oftmals der einzige Weg, das Geld aufzutreiben. Doch die hohe Summe ist nicht das einzige Hindernis.

Abood und Hisham kommen aus Palästina und studieren in Deutschland. Aus der Ferne müssen sie zuschauen, was sich seit dem 7. Oktober in Israel und Palästina ereignet. Beide haben enge Familienmitglieder in Gaza und wollen diesen helfen, dort herauszukommen.

Die einzige Möglichkeit, Gaza zu verlassen ist im Moment der Grenzübergang Rafah zwischen Gaza und Ägypten. Der Grenzübergang wird von Ägypten kontrolliert und ist nicht für den allgemeinen Grenzverkehr geöffnet, der Zugang zum Gazastreifen wird mit Israel koordiniert. Hilfslieferungen brauchen also israelische Zustimmung, ebenso die Ausreise von Menschen mit ausländischem Pass. Haben israelische Behörden Sicherheitsbedenken, kann eine Ausreise scheitern. Seit Wochen warten etwa ARD-Mitarbeiter auf eine Genehmigung, Gaza verlassen zu dürfen.

Keine der beteiligten Behörden hilft

Seit Beginn des Krieges konnten laut Angaben des Magazins Der Spiegel circa 700 deutsche Staatsangehörige ausreisen. Angehörige kritisierten dennoch das Auswärtige Amt für seine späte Initiative und die bürokratischen Hürden – und die Hilfe erreichte nicht alle. Das zeigt der Fall von Alya und Mohammed El-Basyouni, beide deutsche Staatsbürger:innen. Das Rentnerehepaar war im Urlaub in Gaza-Stadt, als die Bombenangriffe der israelischen Armee begannen. Ihre vier Söhne setzten sofort aus Deutschland, der Türkei und den USA alle Hebel in Bewegung, um ihre Eltern nach Hause zu bringen. Sie standen in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt sowie internationalen Organisationen und fühlten sich lange Zeit allein gelassen.

Abood und Hisham hingegen können sich gar nicht auf den deutschen Staat berufen. Sie wohnen zwar in Deutschland, haben aber keine Staatsbürgerschaft und auch ihre Angehörigen genießen keinen besonderen Schutz. Es gibt auch keine andere Behörde, die helfen könnte. Hisham, der eigentlich anders heißt und lieber anonym bleiben möchte, solange seine Familie in Gaza ist, berichtet: Das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in Kairo sagten ihm, sie könnten nichts für seine Familie tun, da sie keine Vertretung in Gaza hätten. Selbst wenn Hishams Familie deutsche Staatsbürger:innen wären, könne man ihnen nicht helfen. Das wurde ihm telefonisch mitgeteilt.

Krankentransporte sind in Gaza kaum zu bekommen

Wer über die Grenze will, muss sich bei den Behörden in Gaza registrieren, Ägypten setzt die Menschen dann auf eine Ausreiseliste, nachdem Israel seine Zustimmung erteilt hat. Obwohl die Basyounis bereits für die Ausreise registriert und zugelassen waren, konnten sie den Gazastreifen wochenlang nicht verlassen, sagt einer ihrer Söhne, Loay El-Basyouni gegenüber dis:orient.

„Meine Eltern können nicht laufen. Es war sehr schwierig für sie, von Gaza-Stadt aus die Grenze zu erreichen, sie brauchten einen Krankentransport.“ Beim Gesundheitsministerium in Gaza waren sie aber nicht als Patient:innen gelistet, ihre Krankenakten lagen in Deutschland. Daher wurden sie für einen Krankentransport lange nicht berücksichtigt. Also überstellte Loay El-Basyouni die Akten nach Gaza und organisierte von Istanbul aus mit dem Roten Halbmond einen Krankentransport für Alya und Mohammed. Dann sind wieder Krankenwägen beschossen worden, nahe dem al-Schifa Krankenhaus, in dem sich die Basyounis zuletzt aufhielten. „Meine Eltern hatten Angst“, sagt El-Basyouni. Zehn Tagen lang fehlten lebenswichtige Medikamente, sein chronisch kranker Vater sei dem Tode nahe gewesen.

Am 10. Februar gelang Loay El-Basyouni schließlich die „Mission Impossible“, wie er sagt. Mithilfe der türkischen Regierung – einer der Söhne der Basyounis ist türkischer Staatsbürger – konnten sie ihre Eltern in Istanbul schließlich wiedersehen. Die horrenden Gebühren für den Grenzübertritt fallen nur für Menschen ohne ausländische Staatsbürgerschaft an und waren für die Basyounis, die deutsche Pässe haben, kein Hindernis.

Das Ehepaar Basyouni konnte mittlerweile aus Gaza ausreisen. In Istanbul trafen sie ihren Sohn Loay. Foto: Loay El-Basyouni, privat.

 

Kosten für die Ausreise: pro Person zwischen 5.000 und 10.000 US-Dollar

Alle, die keine ausländische Staatsangehörigkeit haben, müssen jedoch hohe Summen an ägyptische Mittler:innen zahlen. Um eine Ausreisegenehmigung zu bekommen, wenden sich Familienangehörige an sich als Reiseagenturen bezeichnende Dienstleistungsunternehmen. Die bekannteste von ihnen, über die es auch Hisham versuchen will, ist die Hala Consulting and Tourism. Deren Gründer Ibrahim El-Argani ist laut der französischen Zeitung Le Monde ein Geschäftsmann aus dem Sinai mit Verbindungen zum ägyptischen Geheimdienst.

Seit dem 7. Oktober 2023 variiert der Preis und lag teilweise bei bis zu 10.000 US-Dollar pro Person. Aktuell liegt er wohl bei 5.000 US-Dollar, so Hisham. Betroffene und ihre Angehörigen tauschen sich in Facebook-Gruppen über die Höhe der Preise aus und geben sich Tipps, wie eine Ausreise am besten möglich ist.

Crowdfunding: Wie viel Geld zusammenkommt, hängt vom Umfeld ab

Aufgrund der extrem hohen Preise haben Abood und Hisham wie viele andere Angehörige von Palästinenser:innen Spendenkampagnen gestartet. Crowdfundingportale wie Gofundme sind voll von Sammelaktionen Angehöriger, die ihre Familien aus Gaza herausholen wollen. Jeder Spendenaufruf zeigt Fotos der Zerstörung, beschreibt die jeweilige Geschichte. „Es fühlt sich seltsam an, die eigene schreckliche Geschichte so ausbreiten zu müssen“, sagt Hisham.

Ein Freund Aboods konnte auf diese Weise seine Flucht aus Gaza und die einiger Familienmitgliedern ermöglichen. „Er hat viele Kontakte in den USA und konnte durch deren Engagement schnell viel Geld sammeln“. Das war Motivation genug, es auch für seine eigene Familie zu versuchen. Bei der Kampagne ist seit Anfang Januar jedoch noch nicht genug Geld für die Ausreise seiner Angehörigen zusammengekommen.

Das System dahinter: Agenturen bieten „VIP-Service“ schon vor dem Krieg

Das System der Mittelsmänner und Agenturen entstand lange vor dem 7. Oktober, den „VIP-Service“ für Reisende von und nach Gaza gibt es seit 2019. Damals lagen die Preise Medienberichten zufolge zwischen 600 und 1.200 US-Dollar. Die Reiseagenturen versprechen, die langwierige Aus- oder Einreisegenehmigung über das Innenministerium in Gaza zu umgehen, wie das Netzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project herausarbeitete. Denn eine Genehmigung durch die Hamas konnte immer noch am Sicherheitscheck durch die ägyptischen Behörden scheitern.

Bei einer Agentur wie Hala Consulting and Tourism bezahlt man nach Hishams Informationen die geforderte Summe und unterschreibt eine Art Vertrag. „Manche haben aber auch Wochen danach noch nichts von der Agentur gehört“, so Hisham. Ein Bekannter von ihm habe sich für ihn in Kairo vor Ort erkundigt. Sogar die Öffnungszeiten von Hala seien intransparent, Angehörige stünden täglich Schlange vor der Agentur.

Ein Ende des Kriegs ist das einzige Mittel, Menschenleben zu retten

Um vor Ort etwas bewirken zu können, reist Hisham jetzt mit seinen Eltern selbst nach Ägypten. Sein Crowdfunding wurde viel in den Sozialen Medien geteilt, so konnte er mehrere Zehntausend Euro sammeln. Der Plan sei, dass seine Familie nach ihrer Ausreise aus Gaza erstmal in Ägypten bleibe. Das Geld könnten sie gut für deren Lebensunterhalt brauchen, sagt Hisham. „Jetzt müssen wir so viel Geld sinnlos an eine Agentur zahlen.“ Auch Aboods Familie plant im Falle einer gelungenen Ausreise, in Ägypten zu bleiben: „Sie haben mit palästinensischen Papieren gar keine andere Option“, sagt er.

Gaza verlassen kann also aktuell nur, wer die nötigen finanziellen Mittel hat und gesundheitlich nicht eingeschränkt ist. Aber selbst dann sind die Chancen gering. Das spricht einmal mehr für die Forderung von UN-Generalsekretär Antonio Guterres: „Ein humanitärer Waffenstillstand ist der einzige Weg, um die verzweifelte Notlage der Menschen in Gaza zu lindern und ihren andauernden Albtraum zu beenden.“ Die internationale Gemeinschaft muss dafür sorgen, dass die Überlebenden medizinisch wie psychologisch versorgt werden und gewährleisten, dass sie mindestens Grundnahrungsmittel und ein Dach über dem Kopf erhalten. Es darf keine weitere Zeit mit politischen Ausflüchten verschwendet werden – jeder Mensch hat ein Recht auf Leben. Angesichts der begonnenen Bombardierung Rafahs gilt dieser Appell dringender denn je.

 

 

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Jana hat Frankreichstudien und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Université Paris 8 Vincennes–St.-Denis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin für das Qamar Magazin und hat unter anderem ein Praktikum beim tunesischen Blog nawaat.org gemacht. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit Gewerkschaften in Marokkos...
Redigiert von Eva Hochreuther, Alicia Kleer